9. Evolutionäre Entwicklung von Kompetenzen, Geist und Intelligenz

Prinzipiell benötigt es für viele Kompetenzen keinerlei Verständnis. Die längste Zeit der Evolution des Lebens entstanden Lebens- und Überlebenskompetenzen ganz ohne, dass die kompetenten Organismen irgendein Verständnis, geschweige denn Bewusstsein hatten. Auch heute operieren die meisten Lebensformen ohne jegliches Verständnis. Die Lebens- und Überlebenskompetenzen, die sie mitbringen, haben sich wie von Darwin beschrieben durch natürliche Selektion ausgeprägt (83).

Die 4 Kategorien des Kompetenzerwerbs (Lernen) nach Daniel Dennett

Jede Generation bildet Variationen bestimmter Eigenschaften oder Kompetenzen aus, wobei die „Gewinnereigenschaften“ zu mehr Kopien in der nächsten Generation führen. Solche Darwin’sche Kreaturenwurden also mit allen Kompetenzen geboren, die sie je haben werden. Sie sind also begabt ohne zu Lernen und ohne zu verstehen und ohne lernen zu müssen. Das kompetitiv-selektive Testen der Verhaltenskompetenzen selektiert auf Generationsebene.

 

In seinem Buch über die Evolution des Geistes „From Bacteria to Bach and Back“ stellt der Amerikanische Philosoph Daniel Dennett vier Stufen der Verständnis – Kompetenzab­hängigkeit, vor. Neben der primitivsten (aber sehr erfolgreichen) Kategorie des Darwin‘schen Kompetenzerwerbs, nennt er noch drei weitere Kategorien, benannt nach dem Verhaltenswissenschaftler Skinner, dem Wissenschaftsphilosophen Popper und dem Kognitionspsychologen Richard Gregory. Dennett schreibt von 4 Kategorien von „Kreaturen“, wobei mir 4 Kategorien des „Kompetenzerwerbs“ angemessen erscheint, da die „niedrigeren“ Kategorien des Kompetenzerwerbs in Kreaturen, der höheren Stufen ebenfalls angelegt sind. Auch wir Menschen bringen schließlich einige angeborene Kompetenzen mit (Atmen z.B.). die als Darwin’sche Kompetenzen angesehen werden können.

Die 4 Kategorien des Kompetenzerwerbs nach Dennett sind:

  • Darwin’scher Kompetenzerwerb (alle Kompetenzen angeboren)
  • Skinner‘scher Kompetenzerwerb (Lernen durch Konditionierung)
  • Popper’scher Kompetenzerwerb (Lernen durch Testen von Verhaltenshypothesen)
  • Gregorianischer Kompetenzerwerb (Denken)

 

Skinner’scher Kompetenzerwerb erfolgt durch Konditionierung. Skinner’sche Kreaturen bringen eine gewisse Formbarkeit mit. Neben den angeborenen Kompetenzen bringen sie Fähigkeit mit, bestehende Verhaltensweisen anzupassen. Die Anpassung erfolgt entsprechend positiver oder negativer Verstärkung: Positive Verstärkung besteht aus einem belohnenden Reiz (z.B. eine leckere Frucht), negative aus einem bestrafenden (z.B. ein Schmerzreiz). Die Verhaltensmuster, die einen positiven Reiz auslösen werden in Zukunft verstärkt auftreten. Das kompetitiv-selektive Testen der Verhaltenskompetenzen erfolgt also auf individueller Ebene zu Lebzeiten. Der Skinner’sche Kompetenzerwerb wirkt sich aber auch evolutionär im Sinne Darwins aus, da das Konditionieren die Überlebenskompetenzen verbessert und somit die Überlebens- und Fortpflanzungswahrscheinlichkeit erhöht.

 

Popper’scher Kompetenzerwerb erfolgt durch „offline“ Testung von Hypothesen. Popper’sche Kreaturen extrahieren Informationen aus der Umwelt und können hypothetisches Verhalten „offline“ Testen und gegebenfalls virtuell „sterben“ lassen anstatt selbst zu sterben. Die erste Handlung, die sie dann tatsächlich umsetzen ist also nicht mehr zufällig, sondern folgt einem vorherigen „Testen“ verschiedener Verhaltensoptionen. Das kompetitiv-selektive Testen der Verhaltenskompetenzen erfolgt also auf Ebene der Verhaltenshypothesen.

 

Der Gregorianische Kompetenzerwerb ist schließlich, dass, was wir Menschen implizieren, wenn wir von Lernen im Sinne der Schulbildung sprechen. Abstrakte Konzepte können erfaßt und erörtert werden, Lesen, Schreiben, Vorträge, Mathematik und Politik, Soziologie und soziale Interaktionen. Dennett sieht den Gregorianischen Kompetenzerwerb als Domäne des Menschen.

Versuche, Begabungen zu messen

Auch Menschen, die bei Intelligenztests niedrige Werte erzielen, haben in der Regel Begabungen und Interessen und stellen in manchen Bereichen sicherlich auch die „Intelligenzbestien“ in den Schatten. Die Intelligenzquotientmesswerte sind nun mal nur Erfolgszählungen bei der Aufgabenlösung bestimmter, von den Testentwicklern für relevant erachteter Fertigkeiten. Einige Fertigkeiten bzw. Begabungen, die in der menschlichen Evolution sicherlich bedeutsam waren, werden in einem Papier- (oder Bildschirm-) basierten Test gar nicht abgefragt (z.B. fehlen oft motorische Begabung/Intelligenz). Auch einige senso-zerebrale Leistungen werden ausgelassen, so wird das Riechvermögen, eine Sinneswahrnehmung, deren Informationsverarbeitung bei anderen Arten, z.B. Hunden, unheimlich wichtig ist, gar nicht erst abgefragt. Der Großteil der abgefragten Intelligenzdimensionen exploriert Fertigkeiten, die, gemessen an der menschlichen Entwicklungszeit, eigentlich erst seit recht kurzer Zeit tatsächlich im Alltagsleben gefordert werden. Die meisten im Intelligenztest abgefragten Fertigkeiten spielten für den Großteil der menschlichen Evolution keine (direkte) Rolle.

 

Mein Punkt ist: Intelligenz ist etwas sehr Subjektives. Die Intelligenzquotienten täuschen eine messbare Objektivität vor, die es so wohl nicht gibt. Ein Intelligenzquotient ist ein objektiver Messwert für die Zahl der gelösten Aufgaben eines Intelligenztests. Was Intelligenz ausmacht und wie gut der Test diese misst, ist reine Definitionssache.  Was ist Intelligenz? Was ist Intelligenz für mich, was für meinen Nachbarn? Wie valide erfasst ein Intelligenztest „Intelligenz“?

Die Fertigkeiten, die wir im Leben entwickeln, werden stark von unserer Umwelt und somit von der Zeit, in der wir Leben, bestimmt.

Idiokratisierung durch Technisierung

Der anfangs erwähnte Film „Idiocracy“ skizzierte eine über die Jahrhunderte verdummte amerikanische Gesellschaft als Folge einer wesentlich höheren Fertilität bei Menschen mit niedriger Intelligenz als bei Menschen mit hoher Intelligenz. Kritiker des Films betonten, dass die in der Anfangssequenz gezeigten Beispiele auch unterschiedliche Klassen (obere Mittelschicht vs. Unterschicht) zeigten. Diese Kritik mag uns Anlass geben zu würdigen, dass Intelligenz- und Begabungsentwicklung eben nicht nur genetisch disponiert sind. Wichtige Faktoren beim Lernen sind Interesse an der Thematik, ein angenehmes und stimulierendes Lernumfeld und die Alltagsintegrierbarkeit von Lernaktivitäten. Wichtig um Fertigkeiten zu erlangen und zu verbessern ist deren wiederholende Anwendung – „use it or lose it“ –. Fertigkeiten, die uns von Maschinen abgenommen werden sind somit in Gefahr, verloren zu gehen.

Eine Idiokratisierung erfolgt im Zusammenspiel von „Nature“ and „Nurture“

Als Gregorianische Kreaturen unterliegen wir eben nicht nur genetischen Zwängen. Ein stimulierendes Umfeld ist für die Entwicklung unserer Fähigkeiten und Begabungen ebenfalls sehr wichtig (wenn nicht gar wichtiger als die genetische Veranlagung). „Nature“ und „Nurture“ liegen in einem Gleichgewicht. 

 

Allerdings bedeutet dies, dass Mechanismen, die in Idiocracy zur gesamtgesellschaftlichen Verblödung führten, nicht nur durch natürliche Selektion über Generationen wirken, sondern zu unseren Lebzeiten durch Lebensstil und Lern- und Bildungsumwelten sowie Lern- und Bildungssysteme wirken können. Auch die Wirkung auf die Nachkommen der nächsten Generation ist nicht nur genetisch bedingt, sondern auch durch „Vererbung“ sozialer Umstände (Klasse, soziales Umfeld). Dies wäre also eine kulturelle Idiokratisierung, die zu einer geistigen Verflachung der Individuen führt.

 

Fertigkeiten, die in unserem Alltag immer weniger gebraucht werden, entwickeln sich schon innerhalb der direkt betroffenen Generation zurück. Wenn Fertigkeiten mit Mechanismen natürlicher Selektion verknüpft sind, wirkt sich eine Änderung der Fertigkeit auf künftige Generationen aus. Fertigkeiten, die essentiell für das Erreichen des fortpflanzungsfähigen Alters und für die Fortpflanzung sind, bleiben erhalten. Immer wieder machen wir uns Sorgen über die von Generation zu Generation abnehmenden motorischen Fertigkeiten und die abnehmende sportliche Fitness breiter Schichten Jugendlicher (wobei die im Intelligenztest gemessen Werte von Generation zu Generation besser werden – offenbar wird die Menschheit also im Ausführen von Zettelaufgaben besser) .

 

Wenn ich wissenschaftliche Werke von früher sehe, fällt mir immer wieder auf, wie gut Wissenschaftler früher zeichnen konnten (man betrachte Darwins, Haeckels oder Humboldts Zeichnungen). Ich selbst habe Jahre an Universitäten verbracht, muss aber gestehen, dass meine Zeichenfertigkeiten sehr schwach sind. Die Photographie hat die Zeichenfertigkeit meiner Generation schlichtweg verkümmern lassen. Auch das Schreiben mit der Hand hat mein Vater wahrscheinlich deutlich besser beherrscht (ich schreibe hier gerade auf einem Laptop).

 

Welche Auswirkungen die allgegenwärtige Nutzung mobiler Endgeräte (Smartphones) auf die kollektiven Fertigkeiten hat, kann ich schwer absehen, aber ich habe jetzt schon den Eindruck, dass die einfache Verfügbarkeit von Navigationsgeräten zu einer kollektiven Rückbildung des Orientierungssinns führt. Auch die Art, wie wir Informationen verarbeiten, ist in einem epochalen Wandel begriffen: Die Zeit, die wir konzentriert an einer Sache arbeiten (z.B. ein Buch lesen) wird immer mehr von unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Geräten  (z.B. Smartphones) unterbrochen.

 

In Idiocracy werden Entscheidungen von Computern getroffen, die von vorherigen Generationen geschaffen wurden, die aber in der skiziierten Gesellschaft kein Mensch mehr programmieren oder steuern kann.