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5. Mechanismen der Evolution und deren Wirkung auf den Homo sapiens

Über Generationen hinweg werden sich die Menschen fortpflanzen, die vor dem eigenen Ableben möglichst viele Nachkommen zeugen, die wiederum das fortpflanzungsfähige Alter erreichen. Wessen genetische Anlagen im Genpool verbleiben, hängt also nur begrenzt mit der „Tüchtigkeit“ der Person im Leben zusammen, nämlich nur dann, wenn diese „Tüchtigkeitsmerkmale“ mit dem Zeugen von Nachkommen vor dem eigenen Ableben assoziiert sind. In der Eingangszene des Films „Idiocracy“, die im Prolog dieses Buches beschrieben ist, wird dieser Umstand satirisch überzeichnet und führt dazu, dass die Menschheit im Film Idiocracy allmählich verblödet, da sich dumme Menschen stärker vermehren als schlaue.

Unterschiedliche Anreizsysteme für promiskuitives Verhalten bei Männern und Frauen

Da Frauen die Kinder in der Schwangerschaft austragen und dann bei der Geburt zur Welt bringen, können sie sich in der Regel der Kinderaufzucht nicht entziehen. Eine erfolgreiche Fortpflanzungsstrategie ist für Frauen fast immer mit großen Investitionen an Zeit und Aufwand verbunden. Zahlreiche Kinder sind noch keine Fortpflanzungsgarantie über mehrere Generationen, wenn diese nicht selbst das fortpflanzungsfägige Alter erreichen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder das fortpflanzungsfähige Alter erreichen steigt, wenn die Frau, die die Kinder geboren hat, nicht alleine für die Kinder sorgen muss, sondern Unterstützung von ihrem Mann oder von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft bekommt.

 

Für Männer ist eine erfolgreiche Fortpflanzungsstrategie nicht zwangsläufig mit großen Investiotionen an Zeit und Aufwand verbunden. Ein Mann, der zahlreiche Frauen schwängert, ist evolutionär erfolgreich, wenn viel oder alle Kinder das fortpflanzungsfähige Alter erreichen, ob mit oder ohne Zutun des Vaters. Entsprechend müssen wir davon ausgehen, dass wir alle von wesentlich mehr weiblichen als von männlichen Individuen abstammen. In Harems-Kulturen, in denen ein Mann mehrere Frauen gleichzeitig hat, dürfte die Ratio der weiblichen Vorfahren zu den männlichen Vorfahren besonders hoch sein. Auch in auf den ersten Blick monogamen Kulturen konzentriert sich der Fortpflanzungserfog auf weniger Männer als Frauen, sei es durch Fortpflanzung beim Fremdgehen oder Sequenzen serieller Monogamie. Im Prinzip kann ein Mann nach erfolgter Befruchtung sofort zur nächsten Frau weiterziehen. Wenn eine Frau erst einmal schwanger ist, ist die nächste Befruchtung frühestens neun Monate später wieder möglich, in der Regel sogar erst nach 2-3 Jahren, wenn das vorhergehende Kind „aus dem Gröbsten raus“ ist. Bei einigen Naturvölkern, die noch heute als Jäger und Sammler leben, ist der Infantizid bei Mehrlingsgeburten oder bei zu enger Geburtsfolge (z.B. erneute Geburt, während Vorgängerkind noch gestillt wird) durchaus üblich (40).

 

 

Mechanismen sexueller Anziehung

Frei modifiziert nach einem nichtpublizierten Entwurf von Hagen Frickmann

 

Sexuelle Aktivität gehört zum festen Verhaltensrepertoire des Menschen, so dass ihrer Abwesenheit Krankheitswert zugeschrieben wird. Bei Frauen wurde das Phänomen dieser sogenannten „Alibidimie“ häufiger beschrieben als bei Männern (41). Die Alibidimie hat durch die Sexualwissenschaften insbesondere in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vermehrt Aufmerksamkeit erfahren. Die Abteilung für Sexualforschung der Universität Hamburg beschrieb seit Mitte der siebziger Jahre bis Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts einen Anstieg der Patientinnen mit der Diagnose sexuelle Lustlosigkeit von 10% auf 60%, bei den männlichen Patienten war ein Anstieg von 5% auf 15% zu verzeichnen (42). Ob dieser Anstieg auf einen reelen Anstieg der Alibidimie in der Bevölkerung zurückzuführen ist, oder ob Menschen mit Alibidimie diese heutzutage nur häufiger als Krankheit empfinden als früher und ärztliche Hilfe suchen, lässt sich aus reinen Patientendaten natürlich nicht abschätzen. Für den Fortpflanzungserfolg ist Alibidämie nur relevant, wenn sie primär besteht und das Individuum davon abhält, Geschlechtsverkehr, der zu Schwangerschaft führt, zu vollziehen. Wenn bei einer postmenopausalen Frau eine Alibidämie besteht, kann dies individuellen Leidensdruck erzeugen und ggf. das partnerschaftliche Zusammenleben beeinträchigen. Auf die Fortpflanzungsperspektiven der Frau hat eine postmenopausale Alibidämie keinen Einfluss mehr.

 

Bei sexuellen Appetenzstörungen, wird zwischen primärer und sekundärer Unlust unterschieden (41, 43). Von primären Störungen wird gesprochen, wenn niemals, zu keinem Zeitpunkt und gegenüber keinem Menschen je sexuelles Verlangen gezeigt wird. Häufiger sind sekundäre Appetenzstörungen, bei denen vormals bestehendes sexuelles Interesse abnimmt oder erlischt. Neben dem „normalen Abnehmen“ des sexuellen Interesses am immer gleichen Partner über die Zeit, kann sekundäre Unlust auch durch Partnerschaftskonflikte, gesundheitliche Probleme oder allgemeine Unzufriedenheit mit dem Berufs- oder Privatleben verursacht oder verstärkt werden. Bereits in den 1970er Jahren wurden Monotonie, Langeweile, Überdruss und Desinteresse innerhalb monogamer Beziehungen als wesentliche Determinanten sekundärer Alibimie herausgearbeitet (44). Der Vertreter der kritischen Sexualwissenschaft Volkmar Sigusch sah in einem dem Paar unbewussten Fetisch bzw. einer „kleine Perversion“ eine Grundlage zum Erhalt der sexuellen Appetenz in längeren Paarbeziehungen und pointierte seine Position mit dem Bonmot: „Lange Liebesbeziehungen ohne einen Fetisch beginnen mit Orgasmen und enden mit Freundschaftsküssen.“ (45). Inwiefern Fetische bei vorgschichtlichen Kulturen eine Rolle bei der sexuellen Stimulation gespielt haben, können wir nur erahnen.

 

Der Fokus der folgenden Betrachtungen soll auf einer Zusammenfassung der neurobiologischen und neurochemischen Grundlagen sexueller Affinität liegen, ergänzt durch soziokulturelle und evolutionäre Betrachtungen.

Neurobiologische Grundlagen

Sexuelle Aktivität stellt phylogenetisch (stammesgeschichtlich) ein altes „Programm“ dar, so dass neurobiologische Grundlagen auch am nichtmenschlichen Säugetiergehirn studiert werden können. Natürlich haben tierexperimentelle Daten lediglich Modellcharakter, geben aber immerhin den Rahmen für das Verständnis der neuronalen Prozesse menschlicher Sexualität. Wir erinnern uns, dass nach dem Aussterben der Dinosaurier vor 66 Millionen Jahren das Zeitalter der Säugetiere anbrach und die Vorfahren der Affen starke Ähnlichkeit mit Nagetieren hatten. Aus der Zeit vor etwa 56 Millionen Jahren, während des Paläozän-Eozän-Temperaturmaximums (PETM), wurden Fossilien nagetierähnlicher Tiere mit Primatenmerkmalen wie nach vorne ausgerichteten Augen und Hand- statt Pfotenanatomie mit oponierbaren Daumen und Fingernägeln statt Krallen gefunden.

 

Im entwicklungsgeschichtlich vergleichsweise alten Zwischenhirn (Diencephalon) befinden sich zyklische Oszillatoren, die Erregung bzw. Aktivität generieren. Wir sprechen hier von innerer bzw. endogener Erregung. Ein prominentes Beispiel eines solchen Oszillators ist der sogenannte Nucleus suprachiasmaticus, der für die Aufrechterhaltung der Tag-Nacht-Wachheits-Schlaf-Rhythmik eine wesentliche Rolle spielt (46). Weitere erregende Stimuli werden über unsere Sinnesorgane vermittelt, hierbei ist von äußerer bzw. exogener Erregung die Rede. Die von den Oszillatoren und Sinnesorganen generierte Erregung wird über komplexe synaptische Verschaltungen weitergeleitet und dabei erregend oder hemmend modifiziert. Den Nervenzellen unseres entwicklungsgeschichtlich jüngeren Großhirns, auch Telencphalon oder Cortex genannt, dem die sogenannten „höheren Hirnfunktionen“ zugerechnet werden, kommt dabei im Wesentlichen eine hemmende Funktion zu. Die Erregung wird durch die hemmenden telencephalen Einflüsse modifiziert und gedämpft und die resultierenden Muster elektrochemischer Aktivität determinieren nach dieser neurobiologischen Sichtweise unseren Bewusstseinseindruck wie auch unsere Interaktion mit der Umwelt.

 

Beispiele der Sexualität zu Grunde liegender neurobiologischer Mechanismen

Verschiedene neurobiologische Mechanismen, die mit dem Sexualverhalten in Verbindung stehen, gelten mittlerweile als gut charakterisiert. Exemplarisch sei im Folgenden auf drei Beispiele eingegangen. Beispiel 1 beschreibt die Steuerung der mechanischen Komponente des Sexualakts, Beispiel 2 die Sicherstellung der intrinsischen Motivation zu sexueller Aktivität. Beispiel 3 erklärt neurochemische Grundlagen der sexuellen Affinität anhand der sexuellen Bedeutung der Riechsinnesreize.

Beispiel 1: Steuerung der mechanischen Komponente des Sexualakts

Die mediale präoptische Region und der ventromediale Kern des Hypothalamus

Gesichstwärtig vom zum Zwischenhirn gehörigen Hypothalamus liegt in der medialen präoptischen Region (MPOA) der Sexuell Dimorphe Nukleus (SDN). Der SDN ist bei männlichen Säugetieren für koordiniertes Kopulationsverhalten, also die praktische Umsetzung des Sexualakts, unentbehrlich. Der reich mit Rezeptoren für das Sexualhormon Testosteron ausgestattete SDN ist bei männlichen Säugetieren doppelt so groß wie bei weiblichen und auch im weiblichen menschlichen Gehirn ist das Äquivalent der medialen präoptische Region kleiner als im männlichen (47).

 

Für koordiniertes weibliches Kopulationsverhalten der Ratte, zum Beispiel die Lordosehaltung (gekrümmte Wirbelsäule mit erhobenem Hinterteil) zwecks Ermöglichung des Eindringens des männlichen Penis, gilt der ventromediale Kern des Hypothalamus nebst seiner Verschaltungen ins sogenannte „zentrale Grau“ des Mittelhirns als wesentlich. Diese Regionen sind beim weiblichen Säugetier größer als beim Männchen und auch weibliche Sexualhormone wie Östradiol und Progesteron sind dort beim Weibchen doppelt so reich vertreten (47).

Beispiel 2: Sicherstellung der intrinsischen Motivation zu sexueller Aktivität

Dopamin

Um evolutionär erfolgreiche Verhaltensmuster positiv zu verstärken, existieren im Säugetiergehirn intrinsische Belohnungssysteme im Hirnstamm wie auch im sogenannten limbischen System, die z.B. dafür sorgen, dass Menschen einen Orgasmus nicht als störende Reizüberflutung sondern als lustvollen Höhepunkt erleben. Verschafft man Säugetieren oder Menschen die Möglichkeit, das Belohnungssystem ihres Gehirns pharmakologisch oder elektrisch direkt zu stimulieren, neigen sie dazu, bis zur vollständigen Erschöpfung davon Gebrauch zu machen. Im ungünstigen Fall, typischerweise bei Stimulation durch „nichtnatürliche“ Reize wie die Einnahme von Rauschdrogen, können sich auch Abhängigkeit und Sucht entwickeln. Dopamin ist ein maßgebliches Element des positiven Verstärkungssystems im Säugetiergehirn. Dopamin vermittelt Lustempfindung unspezifisch, beim sexuellen Akt gleichermaßen wie etwa bei schädlichem Drogenkonsum. Passend dazu sind Dopaminagonisten wie Amphetamin und Kokain als Drogen besonders stark im Sinne einer belohnenden Selbststimulation wirksam und haben entsprechend hohes Suchtpotenzial. Sowohl endogene (vom Gehirn selbst produzierte), als auch exogen zugeführte Opiate stimulieren Dopamin-ausschüttende Nervenzellen, die suchtinduzierende Wirkungen dieser Drogen vermitteln (47, 48).

Beispiel 3: Bedeutung der Riechsinnesreize bei der sexuellen Affinität

Die Riechbahn nimmt unmittelbar Einfluss auf affektive Zentren des Gehirns, was auch für die Sexualität von Bedeutung ist (49). Die zu freudvollen sexuellen Reaktionen führende Freisetzung von Botenstoffe wie Dopamin kann durch äußere Reize getriggert werden. Sexuelle Reaktionen werden z.B. durch symmetrische, gleichmäßige und damit dem Durchschnitt entsprechende Gesichter begünstigt. Partner mit möglichst unähnlichem Immunsystem scheinen präferiert zu werden. Letztgenanntes erfolgt über Geruchsinformationen, da der genetisch basierte Eigengeruch jedes Menschen auf der immunologischen Eigen-Fremd-Unterscheidung, vermittelt über molekulare Haupthistokompatibilitätskomplexe (MHC), basiert. Solche MHC-assoziierten Eigengerüche beeinflussen das Partnerwahlverhalten und wirken als Inzestschranke, wobei eine hohe genetische Verwandschaft mit höheren Fehlgeburtenraten assoziiert ist (49).

 

Unbewusst wird unsere sexuelle Reaktionsbereitschaft ferner über Pheromone, also aphrodisierend wirkende Duftstoffe, gesteuert, die auf den Hormonhaushalt wirken. Androstenon, eine Duftkomponente aus männlichem Achselschweiß, wird von Frauen meist als unangenehm empfunden, in der Phase des Eisprungs jedoch angenehmer beurteilt. Zugleich wird durch diesen Duftstoff der weibliche Zyklus synchronisiert. Umgekehrt vermag der Duft weiblichen Achselschweißes und Vaginalsekrets bei Männern im Schlaf Herz- und Atemfrequenz zu verändern und Trauminhalte positiv zu beeinflussen (49). In der Nachkriegszeit, einer Phase des kriegsbedingten Mangels an Männern, sollen Frauen auf Partnersuche Vaginalsekret vor dem Besuch von Tanzveranstaltungen, ähnlich wie Parfum, hinter den Ohren aufgetragen haben, um somit das sexuelle Interesse männlicher Tanzpartner zu wecken.

 

Allerdings sollte man die Bedeutung von Geruchsinformationen auch nicht überbewerten. Anosmien, also die genetisch bedingte Unfähigkeit, bestimmte Geruchskomponenten überhaupt wahrzunehmen, sind häufige Phänomene in der menschlichen Population. Die Häufigkeiten solcher „Geruchsblindheiten“ reichen von 2% für Isovaleriansäure, die Hauptkomponente von Schweiß, bis zu 40% für das obengenannte Androstenon. Dass effektive Funktionieren der menschlichen Reproduktion trotz dieser genetischen Limitationen legt nahe, dass die Bedeutung der Geruchsinformationen beim Menschen zumindest nicht kritisch sein kann.

 

Hormone

Die belohnende Wirkung sexueller Interaktion wird auch von Hormonen wie Oxytozin, Vasopressin und Prolactin in definierten Hirnarealen mitgetragen. So begünstigt etwa Oxytozin in Kombination mit Androgenen reproduktives Verhalten, in Kombination mit Opioiden körperliche Annährung (47).

 

Der Einfluss von Sexualhormonen auf die sexuelle Entwicklung beginnt bereits im Mutterleib. In den ersten Schwangerschaftswochen erfolgt zunächst eine bisexuelle bzw. geschlechtsindifferente Entwicklung. Ohne den Einfluss männlicher Sexualhormone, sogenannter Androgene, bleibt der sich entwickelnde Organismus weiblich. Liegen die Geschlechtschromosomen dagegen in der XY-Konstellation vor, kommt es ab der 6.-7. Schwangerschaftswoche zu Hodenwachstum, Androgenproduktion und damit zur Maskulinisierung. Die Maskulinisierung geht mit der Entwicklung neuronaler Strukturen in Körper und Gehirn, die männliches Sexualverhalten steuern, einher und wird von einer Entwicklungshemmung neuronaler Strukturen, die weibliches Sexualverhalten steuern, begleitet (Defeminisierung). Vor und unmittelbar nach der Geburt haben Androgene wie Testosteron einen primär organisierenden Effekt, in der Pubertät und später einen aktivierenden. Der organisierende Einfluss der Androgene wirkt sich insbesondere auf die sexuelle Orientierung aus.

 

Bei der primären Homosexualität von Frau und Mann bereits vor der Pubertät spielen psychologische und Erziehungseinflüsse keine oder nur eine marginale Rolle. Bedeutsamer scheinen hormonelle Einflüsse während der Schwangerschaft zu sein: Noch relativ spät in der Schwangerschaft, zum Beispiel im Rahmen eines ungewöhnlichen Anstiegs der von der Nebenniere produzierten Androgene, kann es zur Androgenisierung des weiblichen Fötus kommen. Eine Androgenisierung eines sich entwickelnden weiblichen Gehirns führt zur Defeminisierung der Partnerwahl, bei zusätzlich auftretender Maskulinisierung steigt die Wahrscheinlichkeit einer homosexuellen Orientierung der Frau auf weibliche Partnerinnen. Bei der primären männlichen Homosexualität wird eine reduzierte Maskulinisierung bei schwächer ablaufender Defeminisierung als kausal angenommen. Starke psychische Belastungen der Mutter während der Schwangerschaft können etwa zu reduzierter Maskulinisierung führen. In den mittleren und letzten Schwangerschaftsmonaten können reduzierte Testosteronniveaus in definierten Hirnarealen die sexuelle Ausrichtung beeinflussen, obgleich die Testosteronniveaus von heterosexuellen Männern  sich nicht von denen homosexueller Männer unterscheiden (47). Abschließend sei darauf hingewiesen, dass sexuelle Appetenz hormonell gedämpft werden kann. Das synthetische Antiandrogen Cyproteronacetat führt zu einer sehr potenten Hemmung männlicher Sexualappetenz, die als „chemische Kastration“ wirkt (50).

Soziokulturelle Grundlagen restriktiver Sexualität

Wie oben dargestellt, verfügt der Mensch offenkundig über eine exzellente physiologische Grundausstattung zum genussvollen sexuellen Erleben. Inzwischen kann dieses sexuelle Erleben durch wirksame und leicht verfügbare Verhütungsmittel auch von der gewollten oder ungewollten Fortpflanzung entkoppelt werden, und auch das Risiko sexuell übertragbarer Erkrankungen läßt sich inzwischen weitgehend kontrollieren. Dennoch dürfte der Großteil der Menschen weit hinter den physiologischen Möglichkeiten folgenlosen sexuellen Erlebens zurückbleiben.

 

Wie 2017 in einer repräsentativen Studie in der sexuell aktiven Population in Deutschland gezeigt wurde, pflegten dennoch nur etwa 2% der Befragten eine offene Beziehung und etwa 1% eine Beziehung unter fester Beteiligung einer dritten Person, während die serielle Monogamie mit oder ohne gelegentliche sexuelle Außenbeziehungen die mit Abstand verbreiteteste Form sexueller Aktivität darstellte. Selbst das vermeintlich „aktivere“ Kollektiv zeichnete sich lediglich durch etwa 3-4 Mal so viele Partnerinnen bzw. Partner im Vergleich mit dem „Standardkollektiv“ aus (51).

 

Durch die Entkoppelung von Fortpflanzung und sexueller Aktivität wäre prinzipiell eine Gesellschaft möglich, in der eine einverständliche Kopulation zum Zeitvertreib würde, der in der gesellschaftlichen Wertsetzung nicht anders eingestuft würde als ein unverbindliches Treffen auf einen Kaffee oder ein gemeinsamer Kinobesuch. In der gesellschaftlichen Realität gelten sexuelle Gelegenheitskontakte jedoch nach wie vor als Tabuthema und sind aufgrund hochschwelliger sozialer Hürden für viele Menschen nicht ohne Weiteres zu erreichen.

 

Die Vermutung liegt nahe, dass das Sexualverhalten von den Rahmenbedingungen unserer langen Entwicklungsgeschichte dominiert wird, in der es keine Verhütungsmöglichkeiten gab, Sexualität und Fortpflanzung nicht entkoppelt waren und die Überlebenschancen für Kinder isolierter, aus der Gesellschaft ausgestoßener Mütter schlecht waren. Unbewusste evolutionäre Faktoren bestimmen mutmaßlich die Partnerwahl und das Zustandekommen des Sexualakts, ggf. maskiert hinter romantischen Gefühlen und individueller Eitelkeit. Nicht-selektive, um ihrer selbst willen erfolgende heterosexuelle Kopulationen erfolgen nur selten, stattdessen dominiert der Sexualakt im Kontext persönlicher Beziehungen.

 

Befürworter einer freie(re)n Entfaltung des sexuellen Erlebens sehen in den gesellschaftlich geförderten interindividuellen Treueansprüchen Kolonisierungs- bzw. In-Besitznahme-Wünsche (52) gegenüber dem heterosexuellen Partner, die mit eifersüchtiger Vehemenz vertreten werden. Insbesondere bei Frauen könnte sich in der Entwicklungsgeschichte ein Verhalten herausgebildet haben, das dazu dient, den Sexualpartner an sich zu binden, um bei einer möglichen Schwangerschaft (sichere Verhütung gibt es seit weniger als 100 Jahren) bei der Aufzucht des Kindes nicht auf sich allein gestellt zu sein. Ein hochpromiskuitives, nicht-selektives und nur auf sexuellen Genuss ausgerichtetes Sexualverhalten war also die meiste Zeit der menschlichen Entwicklungsgeschichte mit hohen Risiken für die Frau und den Nachwuchs verbunden und wahrscheinlich negativer natürlicher Selektion unterworfen.

 

Sexuelle Aktivitäten werden von weiblicher Seite seltener initiiert als von männlicher. Dabei ist der Bedarf an einer Kompensation durch kommerzielle Angebote enorm; laut Schätzungen des Statistischen Bundesamts lag der Jahresumsatz deutscher Sexarbeiter und (vor allem) Sexarbeiterinnen 2016 bei circa 15 Milliarden Euro. Bedarfsträger sind mit Schwerpunkt heterosexuelle Männer, von denen etwa jeder zehnte mindestens einmal im Leben kommerzielle sexuelle Dienstleistungen in Anspruch nimmt (45).

 

Die affirmative Sexualmedizin postuliert einen sogenannten Libido-Koeffizienten zur Quantifizierung einer im Vergleich zum Mann geringeren weiblichen Motivation, sexuelle Handlungen zu beginnen, was mit einer höheren sexuellen Spannung beim Mann einhergehe (53). Diese Position wird jedoch andernorts scharf kritisiert (45).

 

Eine real erfahrbare, nichtkommerzielle, freie sexuelle Kultur jenseits kanonischer Codizes scheint im Wesentlichen der MSM-Szene (Männer, die Sex mit Männern haben) und damit einer nicht-generativen Sexualität vorbehalten zu sein, die evolutionär unwirksam bleibt.

 

In Dauerbeziehungen nimmt die Häufigkeit sexueller Interaktionen über die Zeit ab, wobei die Abnahme des sexuellen Interesses bei Frauen wesentlich schneller vonstatten geht als beim Mann. Für Männer ist es ein ganz reales Problem, dass offenbar weibliche Bedürfnisse mit ihren sexuellen Wünschen kaum kompatibel sind und Frauen offenbar zudem eher bereit sind, in bei partieller Bedürfnisinkompatibilität auf die Realisierung interaktiver Sexualität ganz zu verzichten.

 

Dies führt, ökonomisch betrachtet, zu einer Angebotsverknappung auf weiblicher Seite was Frauen (vor allem in ihren jungen, reproduktiven Jahren)  in eine starke „Verhandlungsposition“ bringt: Während Männer, im Wissen um das vergleichsweise geringe weibliche Interesse, trotz überwiegend erbärmlicher Erfolgsaussichten eher geneigt sind, ihre Sexualität vergleichsweise unspezifisch „anzubieten“, sind (junge) Frauen in der Lage, aus einem breiten Angebot „auszuwählen“. Ein männliches Überangebot findet sich im traditionellen Kontaktanzeigenmarkt ebenso wie bei internetbasierten Partnervermittlungsplattformen. Während Männer hunderte von Anfragen versenden, um überhaupt mal eine Antwort zu bekommen, fühlen sich insbesondere attraktive und junge Frauen durch die Vielzahl der Zuschriften leicht überwältigt. Der evolutionäre wie ökonomische Vorteil einer solchen Auswahloption für die weibliche Seite liegt auf der Hand.

 

In der belletristischen Literatur wurde diese Unterwerfung der heterosexuellen Sexualität unter die kapitalistischen Marktgesetze von Angebot und Nachfrage durch den zeitgenössischen französischen Schriftsteller Michel Houellebecq in Romanen wie „Ausweitung der Kampfzone“ (54) und „Les Particules Elementaires“ (55) mit zynischem Scharfsinn analysiert. Laut Houellebecq wird der kapitalistische Konkurrenzkampf heterosexueller Männer jeder gegen jeden um attraktive sexuelle Gelegenheiten bzw. überhaupt irgendwelche sexuelle Gelegenheiten mit der gleichen Verbissenheit geführt wie der Kampf um ökonomisch gewinnträchtige Gelegenheiten zur kapitalistischen Fremdverwertung der eigenen Arbeitskraft. Und ähnlich wie am Arbeitsmarkt gibt es auch in der „sexuellen Kampfzone“ für Houellebecq wenig Gewinner und viele Verlierer. Zu den „Gewinnern“ zählt er eine sehr kleine Gruppe, auf die sich nahezu das gesamte heterosexuelle Interesse junger reproduktionsfähiger Frauen  richtet und die entsprechend aus einem erdrückenden Überangebot auswählen kann. Die große Gruppe des „Rests“ wird von ihm den „Verlierern“ zugerechnet, die entweder keinen Sex haben oder dafür bezahlen müssen. Dabei kann diese Bezahlung direkt oder indirekt, z.B. durch kostspielige Beziehungsführung und damit einhergehende Kompensation durch sozioökonomische Absicherung, erfolgen. In neoliberaler Manier ist „jeder seines Glückes Schmied“ (56), die Verlierer, denen es zum Beispiel am erforderlichen Charme, Geld und Aussehen gebricht, sind an ihrem Verlierersein – diesem Verständnis folgend – mithin selbst schuld.

 

Auch die Zunahme weiblicher sozioökonomischer Unabhängigkeit und die westliche Gentlemen-Kultur mit einer zumindest medial suggerierten Ächtung machohafter männlicher Verhaltensweise hat keineswegs zu einem spürbaren Plus weiblicher libertinär-sexueller Aktivität oder gar Promiskuität geführt, auch nicht in der jungen Generation (45). Das – im Volksmund etwas platt formulierte – weibliche Postulat des „Wer ficken will, muss nett sein.“ zahlt sich somit für den kultivierten Mann der westlichen Postmoderne nicht aus.

Verknappung der sexuellen Ressource als ökonomische und evolutionäre Strategie

Neben evolutionären Erklärungen für die weibliche Knapphaltung der „sexuellen Ressource“ sind also auch ökonomische Vorteile für Frauen schwer von der Hand zu weisen, da Männer veranlasst werden, sich auf im Grunde zumindest wirtschaftlich nicht lohnende Beziehungsmodelle einzulassen, selbst wenn kein Nachwuchs im Spiel ist, der ökonomisch profitieren könnte.

 

Durch die Verknappung wird eine adäquate interaktive sexuelle Befriedigung jenseits kostspieliger Beziehungsstrukturen für den Mann schwer erreichbar. Durch die Verknappung der sexuellen Ressource wächst die Chance einen potenziellen Sexualpartner zu einer festen Bindungsstruktur zu bewegen, was evolutionär für die Frau von Vorteil ist.

 

Zynisch könnte man hier von einem weiblichen „Geschäftsmodell“ basierend auf Ressourcenverknappung sprechen, was es natürlich nahelegt, all jene zu diffamieren, die dazu beitragen, eine solche Verknappung zu unterlaufen. Dazu zählt die primitive Abqualifizierung sexuell freizügiger Frauen als „Schlampen“, während es für vergleichbar aktive Männer bereits linguistisch kaum vergleichbar abwertende Bezeichnungen gibt. Scheinbar menschenfreundlicher verpackt, de facto aber in die gleiche Richtung zielend, wären auch die als „Schutz vor Ausbeutung“ verkauften, teils diskriminierend-bevormundenden Tätigkeitseinschränkungen für Sexarbeiterinnen zu nennen (was nicht verleugnen soll, dass es durchaus kriminell unterdrückende Zuhälter-Prostituierten Verhältnisse gibt) (53) (53) (57).

 

Wie Walter Bräutigam bereits in seiner 1978 erschienenen „Sexualmedizin im Grundriß“ klarstellte, ist es einfach „für manche Männer billiger und zeitlich weniger aufwendig, mit einer Prostituierten Verkehr zu haben, als eine Frau zu Verabredungen, Autofahrten, Einladung zum Essen, schließlich zum sexuellen Verkehr zu bringen.“ (44). Der irische Dramaturg Brendan Behan formulierte das sarkastische Bonmot: „The big difference between sex for money and sex for free is that sex for money usually costs a lot less.“. Dabei ist offenkundig, dass eine kommerzielle Kompensationsmöglichkeit der sexuellen Ressourcenknappheit und damit der evolutionär starken weiblichen Position, sich Partner auswählen zu können, zuwider läuft. Prostitutionsverbote gibt es in zahlreichen Ländern, darunter vermeintlich liberale Länder wie Frankreich und Schweden, wo Freier strafrechtlich verfolgt werden und in Ländern, in denen de facto Prostitution gängig und weitverbreitet ist wie in Russland, wo jedoch Prostituierte strafrechtlich verfolgt werden.

Dichtestress als Gefahr für den Eros?

Auch wenn teils als bloße Epiphänomene gesellschaftlich sozialer Umwandlungen interpretiert, sind die im Vorausgegangen vorgestellten Berichte über den quantitativen Anstieg der Alibidimie (42) schwer von der Hand zu weisen. Angesichts der globalen Überbevölkerung und zeitgenössischen Diskussionen über anthoprogene Zerstörungen unserer Lebensräume (58) soll hier ein bei Ratten und Mäusen unter Dichtestress beobachtetes Alibidimiephänomen skizziert werden.

 

Bei Nagetieren ist die Alibidimie als Element von Massenwechseln bekannt. Je nach Größe des Lebensraums und zur Verfügung stehender natürlicher Ressourcen kann sich die Rattenpopulation über mehrere Jahre ungehemmt und exponentiell vermehren, was zur Populationsverdichtung führt, für die jede Spezies jedoch nur eine endliche Toleranz aufbringt. Wird irgendwann eine zu hohe Populationsdichte erreicht (einhergehend mit Ressourcenverknappung), entsteht sozialer Stress. Infolge dieses Stresses werden die Nagerweibchen infertil und beißen die begattungswilligen Männchen weg. Die Reproduktion geht zurück. Im Kampf um die verbliebenen Ressourcen greifen sich die Tiere, beeinflusst durch ungünstige Umweltbedingungen sowie physischen und psychischen Stress, im Extremfall gegenseitig an und töten sich dabei sogar, bis die Population weitgehend dezimiert ist. Man spricht dann von einem Populationszusammenbruch. Die verbliebenen Tiere begründen darauf eine neue Population und der Zyklus beginnt erneut (59).

 

Berühmt wurden die “Mouse Utopia” und “Rat Utopia” Experimente Ender der 1960 er Jahre, in denen gezeigt wurde, dass Dichtestress auch bei Aufrechterhaltung ausreichender Nahrungsressourcenzufuhr zum Zusammenbruch der Nagergesellschaft führte (60, 61). Weibliche Mäuse ließen ihre Jungen einfach eingehen und wehrten Annäherungsversuche durch männliche Tiere aggressiv ab. Aber auch männliche Tiere verloren zunehmend das Interesse an den Weibchen oder begatteten vollkommen unselektiv irgendein gerade nahes Tier. Obwohl genug Nahrung vorhanden war, attackierten die Tiere sich äußerst aggressiv. Einige männliche und weibliche Tiere sonderten sich vollkommen von der Nager-Gesellschaft ab, nisteten sich in den höheren Boxen der Anlage ein und konzentrierten sich auf Schlafen, Essen und Körper- bzw. Fellpflege. Da diese Tiere frei von Biss- und Kratznarben blieben, wohlgenährt waren und immer ein makellos glänzendes Fell hatten, tauften die Forscher sie “the beautiful ones” (die Schönlinge). Diese Tiere hatten sämtliche soziale Interaktionen mit anderen Tieren eingestellt; sie zeigten auch keine sexuellen Interessen mehr. Nachdem die Nagetierbevölkerung wieder zurückgegangen war, setzte die Fortpflanzung in den klassischen “Mouse Utopia” und “Rat Utopia” Experimenten nicht mehr ein, so dass die Populationen schließlich ausstarben.

 

Es ist sicherlich problematisch, exemplarische Beobachtungen aus dem Tierreich induktiv auf menschliche Gesellschaften zu übertragen. Dennoch erscheint die Frage legitim, ob Dichtestress sich nicht auch auf das menschliche Sexualverhalten auswirken kann? Japans Städte sind extrem gut organisiert, aber extrem dicht besiedelt, ohne dass es zu Nahrungsmittelknappheit kommt – also am ehesten menschliche Analoga zu den „Rat Utopia“ Szenarien. Gerade in Japan schwindet das Interesse an Sex bei beiden Geschlechtern (62). Das japanische Modell des „Fortpflanzungsverzichts“ erscheint hierbei attraktiver als das „sich gegenseitige Totbeißen“, das man bei Ratten und Mäusen beobachten konnte. Vielleicht ist dieses Schwinden des Fortpflanzungstriebs als Regulationsmechanismus bei zu hoher Bevölkerungsdichte sogar zu begrüßen. Exponentielles Wachstum der Bevölkerung muss irgendwann an Grenzen stossen und sich auf Kultur, Seuchendynamik, nationale und internationale Verteilungskonflikte wie auch gewalttätige Konflikte sowie auf die Umwelt insgesamt auswirken (13) .

 

Selbstverständlich gibt es keinen Beweis dafür, dass das in den Metropolen in den vergangenen Dekaden verstärkt beobachtete Alibidimie-Phänomen wirklich auf Dichtestress zurückzuführen sein könnte. Gerade in westlichen Großstädten wie in Hamburg, das im Vergleich zu Tokio dünn besiedelt und klein ist und wo die oben geschilderten Alibidimie-Daten erhoben wurden (42), scheint ein gutes Leben für viele Menschen möglich. Dennoch häufen sich hier auch andere psychische Auffälligkeiten wie affektive Störungen. Parallel gibt es in armen Ländern deutlich höhere Geburtenraten, wobei hier der Zugang zur Empfängnisverhütung und die Bereitstellung sexueller Aufklärungsangebote unter Sicherung der sexuellen Selbstbestimmung verbessert werden kann. Dass das Bevölkerungswachstum auch ohne Zwangsmassnahmen und auch in armen Ländern sanft kontrolliert wirden kann, hat der Iran gezeigt. Hier konnte die Fertilität von 6,5 Geburten pro Frau im Jahr 1983 auf 1,7 Geburten pro Frau gesenkt werden. Dies war durch individuelle, niederschwellige Familienplanungsangebote und guter Schul- und Weiterbildung für Jungen und Mädchen gelungen. Die Bevölkerungsexplosion wurde also sozusagen durch eine Bildungsexplosion kontrolliert.

 

 Die Dichtestress-Hypothese ist sicherlich noch nicht abschließend erforscht. Vielleicht ist es gerade die garantierte Sicherstellungung der Primärbedürfnisse (Nahrung), die dazu führt, dass Dichtestress zu einer Abnahme sexueller Fortpflanzung führt. Interessant wäre, ob sich in einem Nagetier-Utopia Experiment unter Verknappungsbedingungen ebenfalls ein Nachlassen der sexuellen Fortpflanzung einstellt und die sozialen Strukturen kollabieren. Vielleicht war es ja der Überfluss, der die dichtestressbedingte Alibidämie erst manifest werden ließ?