4. Evolutionsgeschichte des Menschen
Der Mensch, Homo sapiens und der Schimpanse, Pan troglodytes haben gemeinsame Vorfahren, jedoch trennten sich die Abstammungslinien vor etwa 5-7 Millionen Jahren. Heute ist Homo sapiens die einzig überlebende Art der Gattung Homo. Von der Gattung Pan (Schimpansen) leben heute noch zwei Arten: Pan troglodytes (Schimpanse) und Pan paniscus (Bonobo oder Zwergschimpanse). Mit den Schimpansen gehört die Gattung Homo zur übergeordneten Familie der Menschenaffen (Hominiden), der auch noch die Gorillas und die Orang-Utans angehören (aber nicht die Gibbons – dann wäre es die Familie der Menschenartigen Affen, Hominoide).
Wie Wissen über die Evolutionsgeschichte des Menschen ensteht
Über meinem Schreibtisch habe ich einen Cartoon aufgehängt, der Seitensansichten von menschlichen Gestalten zeigt. Diese gehen in zunehmend aufrechter Haltung von links nach rechts, wobei der vorletzte, den Homo sapiens darstellende Mann brutal auf den Rücken eines Hoodie-Teenagers aufläuft, der im Weg stehend auf sein Mobiltelephon starrt. Der Cartoon ist eine gute Persiflage auf den allerorten zu beobachtenden Smartphoneautismus. Ein weiterer Cartoon zeigt von links nach rechts Seitensansichten menschlicher Gestalten, die bis zur Mitte zunehmend aufrechter gehen und dann mit zunehmendem Werkzeuggebrauch (Speer, Presslufthammer) eine immer gebeugterer Haltug annehmen. Ganz rechts sitzt ein moderner Mensch, bucklig zusammengekrümmt vor dem Computer. Garniert ist dieser Cartoon mit dem Hinweis, dass hier wohl irgendwo irgendwas schiefgelaufen sei (Somewhere, something went terribly wrong).
Derartige Cartoons sind bei Wissenschaftsinteressierten beliebt und auch meinen Geschmack sprechen sie an. Eine gute Darstellung dessen, was menschliche Evolution oder Evolution an sich ausmacht, sind sie allerdings nicht. Die Evolution des Menschen ist kein geradliniger Prozess, bei dem jeweils ein Vorgängermodell durch ein etwas aufrechter gehendes, verbessertes Nachfolgemodell ersetzt wird. Stattdessen sind die Entwicklungslinien wohl wesentlich komplexer und wir müssen davon ausgehen, dass wir nur von wenigen unserer Vorfahren und von wenigen der Nachfahren des Australopithecus africanus, der vor 3,2 Millionen Jahren in den Hochebene Ostafrikas lebte, wissen. Neben den Entwicklungslinien, die zu uns führten gibt, es sicherlich noch viele andere Menschen(affen)ähnliche Wesen, die ebenfalls von Australopithecus africanus abstammen, jedoch inzwischen ausgestorben sind. Auch können wir nicht sicher sein, dass der Homo sapiens tatsächlich ein Nachfahre des Australopithecus ist, obwohl dies derzeit die gängige Lehrmeinung ist.
Damit wir von einer Art wissen, sind immer mehrere unwahrscheinliche, glückliche Zufälle erforderlich. Irgendwo auf der Welt muss ein Individuum der entsprechenden Art in einer, die Versteinerung begünstigenden Umgebung, verstorben sein. Es muss tatsächlich zur Versteinerung (Fossilierung) kommen, und das Fossil muss Jahrhunderttausende von Jahren erhalten bleiben. Durch eine Kombination unwahrscheinlicher Umstände muss dieses Fossil von einem zeitgenössischen Vertreter der Gattung Homo sapiens gefunden werden. Durch eine weitere Kombination unwahrscheinlicher Umstände muss es als bedeutsam und somit anzeigenswert erachtet werden, um schließlich Eingang in unser Fossilienverzeichnis zu finden (16).
Die Entstehung eines hunderttausende von Jahren überdauernden Fossils aus einem verstorbenen Körper ist immer ein absolut seltener Ausnahmefall. Normalerweise verwesen zunächst die Weichteile und es bleiben die Knochen übrig, deren Zerfall sich über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinzieht. Fossilien, die aus den eigentlichen Körperbestandteilen (meist Knochen) bestehen, werden Körperfossilien genannt. Bei Ausgrabungen, die die jüngere Geschichte betreffen, spielen zuweilen die erhaltenen Knochengewebe selbst eine Rolle. Allerdings wird man es in der Paläoanthropologie, insbesondere bei mehrere Hunderttausend oder Millionen Jahre alten Fossilien, in der Regel mit Versteinerungen zu tun haben, bei denen das eigentliche Gewebe durch Mineralien ersetzt worden ist. Die Frage, inwiefern ein Fossil noch Reste des Ursprungsgewebes enthält, wird immer wichtiger werden, da mit modernen molekulargenetischen Methoden bei jüngeren Fossilien neben der Form des Fundes auch die Aufschlüsselung der DNS Aufschlüsse geben kann (17). Die Erhaltung besonders alter Fossilien ist meist nur durch die rasche luftdichte Einbettung in Erdschichten, z.B. durch Einsinken in Lehm oder Vulkanasche, möglich geworden. Durch zunehmende Auflagerung von Erdschichten verdichtet sich die Sedimentschicht unter Einwirkung von Druck und Temperatur zu Stein und die körperlichen Überreste (i.d.R Knochen) mineralisieren. Sogenannte „Aufschlüsse“ sind Stellen, an denen geologische Schichten längst vergangener Tage durch Erosion, Erdkrustenbewegungen und Verwerfungen zu Tage treten, in denen dann auch Fossilien aus der entsprechenden Epoche eingebettet sind.
Besonders häufig werden Fossilien unserer menschlichen Vorfahren in Ostafrika gefunden und auffällig oft stammen die Fossilien von denselben Fundstätten anderer wichtiger Fossilienfunde. Durch das Auseinanderbrechen des afrikanischen Kontinents (das Horn von Afrika und Teile Ostafrikas entlang der langezogenen Seen Tanganykasee und Malawisee driften weg) haben sich in Ostafrika tausende Kilometer lange Abbruchkanten, die den Großen Afrikanischen Grabenbruch (Great Rift Valley) ausmachen, gebildet. Nirgendwo sonst auf der Welt sind Erdschichten vergangener Epochen so gut auf solch langen Strecken zugänglich, wie an den Abbruchkanten des Afrikanischen Grabenbruchs. Vielleicht ist unsere Vorstellung der afrikanischen menschlichen Herkunft schlicht ein „Detektionsartefarkt“ und wir finden hier nur deshalb so viele Fossilien, weil sie in Afrika durch die geologischen Rahmenbedingungen besonders gut zugänglich sind, jedoch in anderen Teilen der Welt nicht.
Die hohe genetische Vielfalt der auf dem Afrikanischen Kontinent lebenden Menschen spricht aber auch dafür, dass unsere menschlichen Vorfahren auf dem afrikanischen Kontinent tatsächlich früher vertreten waren als an anderen Orten der Welt. Vielleicht waren in der Frühzeit der Menschwerdung die Populationen hier größer und dichter, so dass hier mehr menschliche Fossilien entstanden und gefunden werden können. Diese Annahmen sind die Grundlage der „Out-of Africa Hypothese(n)“, die die Wiege der Menschheit auf dem Afrikanischen Kontinent verorten. Ich spreche hier absichtlich im Plural von „Out-of Africa Hypothese(n)“. Ursprünglich war mit „Out of Africa“ die Ausbreitung unserer eigenen Spezies, des Homo sapiens gemeint. Dieser hatte sich demnach vor 200-300.000 Jahren auf dem afrikanischen Kontinent, wahrscheinlich am Horn von Afrika entwickelt und ist dann in die Welt gezogen. Da diese Wanderungsbewegungen nicht länger als 200-300.000 Jahre zurückliegen können (da es vorher noch keine Homo sapiens gab), wird zuweilen auch von der „Recent African Origin“ Hypothese, oder „Out of Africa II“ gesprochen.
Die Funde menschlicher Fossilien ausserhalb Afrikas, die weit älter sind als Homo sapiens, führen uns zur „Out of Africa I Hypothese“. Diese beschreibt eine ältere Migrationsbewegung des Homo erectus, von dem 1991 etwa 1,8 Millionen Jahren alte Überreste bei Dnamissi in Süd Georgien gefunden wurden, also weit außerhalb Afrikas. Die Entfernung von Kairo nach Tiflis beträgt etwa 2700 km. Die Entfernung von den ostafrikanischen Fundstätten menschlicher Homo erectus Fossilien nach Kairo ist etwa noch einmal so weit. Der südgeorgische Fund liegt also zwischen 3.000 und 6.000 km „Out of Africa“. Auch werden Funde aus Ostasien, wie die des berühmten Peking Menschen, aber auch die des Java Menschen der Art H. erectuszugeordnet. Homo erectus gilt zuweilen als unmittelbarer Vorfahre des H. sapiens. Die Geschichte der Menschwerdung reicht aber noch viel weiter zurück.
Von Australopithecus africanus wissen wir durch das Taung Kind. Dessen fossilisierter Gesichtsschädel mit einem fossilisierten Gehirn wurde im Jahr 1924 in einem Kalksteinbruch in der Nähe des südafrikanischen Örtchens Taung gefunden und von dem Australier Raymond Dart der Öffentlichkeit vorgestellt. Vermutungen, welcher Tragödie das etwa 3-jährige Kind zum Opfer fiel, ergeben sich aus Schnabelhackspuren an der Augenhöhle, die vermuten lassen, dass das Kind Opfer eines großen Greifvogels wurde, für den ein etwa 10 kg schweres Australopithecus Kind durchaus ins Beuteschema passte (18). (Für Kronenadler der Wälder West- und Zentralafrikas stellen Affen die wichtigsten Beutetiere dar.)
Die Taung-Kind Fossillie war aber nicht der erste Fund. Als eigentlicher Beginn der Human-Paläontologie ist wohl eher der Fund von 16 Knochenfragmenten, darunter eine humanen Schädelkalotte, im Jahr 1856 im Neanderthal bei Düsseldorf anzusehen. Nicht, dass man nicht schon vorher Neandertalerknochen gefunden hätte, aber bei den vorherigen Funden in den Niederlanden und in Gibraltar war die Bedeutung der Funde nicht erkannt worden. Während das Alter der Fossilien des Australopithecus Taung-Kindes auf etwa 2,4 Millionen Jahre geschätzt wird, sind die des Neadertalers gerade mal etwa 40.000 Jahre alt und stammen somit aus einer Zeit, als es schon den Homo sapiens in Europa gab. Die Tatsache, dass wir die einzige derzeit lebende Art der Gattung Homo darstellen, ist wohl auch eher ungewöhnlich. Wahrscheinlich gab es in der menschlichen Evolution meistens eine höhere Artenvielfalt: Bis vor etwa 40.000 Jahren gabe es in der Tat mindestens zwei parallel in Europa co-existierende Homo-Arten: Homo neanderthalensis und Homo sapiens.
Das (wenig nützliche) „Missing Link“ Konzept
Das Finden des „Missing Link“, also des evolutionären Bindeglieds zwischen uns und unserem „Vorgängermodell“ oder aber auch zwischen Affe und Mensch, trieb lange Zeit die öffentliche Wahrnehmung der „Urmenschenkunde“, aber auch die Paläontologen selbst an. Das „Missing Link“ Konzept ist jedoch nur noch für Karrikaturen gut. Der Evolutionstheorie ist es eher nicht dienlich, da es einen linearen Verlauf, bei dem jeweils ein Vorgängermodell durch ein etwas verbessertes Nachfolgemodell ersetzt wird, suggeriert. Der Wert der Taung-Fossilien wurde auch wegen der „Missing Link“ Obsession erst nach mehreren Jahrzehnten wirklich anerkannt. Der Gesichtsschädel war noch mehr Affe als Mensch und das Gehirn viel zu klein, als dass die Taung Funde nach Ansicht der damaligen etablierten Paläontologen von einem mit uns verwandten Lebewesen und schon gar nicht von einem Vorgänger auf der Linie zum Homo sapiens stammen konnten. Das englische pälaontologische Establishment war nun mal in dieser Zeit von der Idee besessen, Fossilien von möglichst hochentwickelten Menschen mit großem Gehirn finden zu wollen, und das gefälligst in England und nicht in Deutschland oder gar Afrika (noch dazu von einem Australier). Offener war man für „echte Missing Link Funde“, wie die von Dawson 1912 präsentierten Fosillien des Piltdown Menschen „Eoanthropus dawsoni“. Dieser Fund prägte fast vierzig Jahre lang entscheidend die Theoriebildung in der Paläoanthropologie der menschlichen Evolution. Leider waren die Piltdown Fossilien gefälscht. Wie sich 1953 bei einer erneuten ausführlichen Untersuchung herausstellte, bestand der Fund aus einem mittelalterlichen Menschenschädel und einem Orang-Utan Unterkiefer.
Spalter und Zusammenfasser
Bei neuen Funden menschlicher Fossilien besteht die Tendenz, mit jeder Entdeckung eine neuen Art auszurufen. Eitelkeit und das Bedürfnis nach Ruhm und Ehre sind menschliche Schwächen, vor denen auch Wissenschaftler nicht gefeit sind, weshalb die Finder möchten, dass Ihr Fund bedeutsam ist. Ernst Mayr mahnte Mitte der 1950-er Jahre mehr Zurückhaltung bei der Neuausrufung neuer Arten an. Demnach sollte zunächst immer erst einmal versucht werden, neue Funde in bestehende taxonomische Arten einzuordnen. In der englischen Fachliteratur ist von „Splitters“ (Spaltern) und „Lumpers“ (Zusammenfassern) die Rede. Ernst Mayr war demnach ein „Lumper“.
Die Tendenz, bei neuen Funden neue Arten zu deklarieren, führt zu engen Artdefinitionen (sensu stricto) mit zahlreichen kleinen Kategorien. Ernst Mayrs Ansatz führt zu großzügigen, breiten Artkategorien (sensu lato). Die biologische Artdefinition, die darin besteht, dass Individuen, die miteinander Nachkommen zeugen können derselben Art angehören, ist in der Paläontologie, wo sämtliche Schlüsse aus wenigen Knochen und eventuell Beifunden aus deren Schichtumgebung gezogen werden, wenig hilfreich. Auch können Individuen auf derselben Entwicklungslinie durch hundertausende von Jahren Generationenabstand getrennt liegen.
Die Entdeckungsgeschichte der menschlichen Fossilienfunde, die uns unser heutiges Bild von der Evolution der Hominiden vermittelt, ist voller persönlicher Dramen um ambitionierte und passionierte Wissenschaftler. Sie ist aber sicherlich auch sehr lückenhaft. Arten, von denen wir keine Fossilien finden, kennen wir nicht. Auch können wir nicht wissen, wie viele Arten wir nicht kennen. Vielleicht läßt sich künftig anhand von bis zu uns weitervererbten DNS-Sequenzen auf Vorgängerarten schließen, jedoch werden Fosillienfunde weiterhin entscheidend sein, zumal man aus diesen ja dann vielleicht auch DNS isolieren kann. Bei nur ein paar tausend Jahre alten Fossilien gelingt die DNS-Rekonstruktion ja schon, allerdings wird die erfolgreiche DNS-Rekonstruktion immer unwahrscheinlicher, je älter die Funde sind (17).
Bei der Suche nach dem letzten gemeinsamen Vorfahre von Mensch und Schimpanse müssen wir uns wohl weiterhin ganz klassisch mit der Untersuchung der morphologischen Beschaffenheit von Fossilien zufrieden geben. Im Folgenden möchte ich, beginnend beim letzten (unbekannten) gemeinsamen Vorfahre von Mensch und Schimpanse, auf die Geschichte der menschlichen Arten selbst eingehen. Diese Geschichte ist natürlich lückenhaft, da die gefundenen menschlichen Fossilien einfach unheimlich kleine und weit voneinander entfernte Inseln im Strom der Zeit darstellen.
Der letzte gemeinsame Vorfahre (von Mensch und Schimpanse)
Vor einigen Millionen Jahren (5-7) trennten sich die Entwicklungslinien der Menschen und der Schimpansen. Allerdings sollte man sich die Trennung der hominiden Linie von der Linie der Menschenaffen nicht wie einen magischen trennenden Moment vorstellen, in dem sich ein Kind für die Affen und das andere Kind für die Menschenlinie entschied. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich die Linien über Jahrtausende auseinanderentwickelt haben. Gerade in der Anfangsphase der Auseinanderentwicklung haben sicherlich Elternteile beider Linien häufig Nachkommen miteinander gezeugt. Dies wurde dann immer seltener, bis plötzlich verschiedene Linien existierten, also das Zeugen gemeinsamer fortpflanzungsfähiger Nachkommen biologisch nicht mehr möglich war. Wahrscheinlich begann diese zunehmene Inkompatibilität mit lebensfähigen aber sterilen Nachkommen (wie wir es heute bei Maultieren und Mauleseln, deren Eltern Esel und Pferd sind, beobachten können). Das alles sind aber auch nur Spekulationen. Wir wissen es einfach nicht. Entsprechend der derzeitig gültigen Vorstellung musste der letzte gemeinsame Vorfahre auf dem afrikanischen Kontinent gelebt haben. Dies passt auch weitgehend zu den bislang gefundenen Fossilien. Oder doch nicht?
Exkurs: Vormenschen (vor den Australopithecinen)
Graecopithecus freybergi (Alter 7,2 Mio. Jahre, Fundort Griechenland)
Der erste Fund dieser Art war ein im Jahr 1944 bei Bunkergrabungen der Wehrmacht in Griechenland nahe Athen gefundener Unterkiefer. Zunächst wurde der Fund als Meerkatzenverwandter, später dann immerhin als früher Menschenaffe eingeordnet, wodurch die Out of Africa Hypothese für die menschliche Entwicklungslinie durch diesen Fund noch nicht in Frage gestellt wurde. Erst der Fund eines 4. Prämolaren (Zahn) bei Tschirpan in Bulgarien, der durch seine Ähnlichkeit zu den Zähnen des griechischen Unterkiefers zu einer neuen Untersuchung Anlass gab, brachte Graecopithecus freybergi als potentiellen Vorläufer des der menschlichen Entwicklungslinie zugeordneten Australopithecus ins Spiel. Als typisch für die menschliche (Homini) Linie, gegenüber der Menschenaffenlinie gilt die Zahnwurzelverschmelzung der 3 Prämolaren. Eine Altersbestimmung ergab ein Alter von 7,2 Mio. Jahren, somit also älter als Sahelanthropus, der älteste bislang bekannte Vormensch.
Sollte Graecopithecus freybergi tatsächlich auf der menschlichen Entwicklungslinie liegen, implizierte dies erstens, dass die Entwicklungslinien von Mensch und Affe sich früher aufgespalten haben, als bisher angenommen und zweitens, dass diese Aufspaltung im östlichen Mittelmeerraum stattgefunden haben könnte und nicht in Afrika.
Bevor wir jetzt aber vorschnell die Out of Africa Hypothese verwerfen, sei darauf hingewiesen, dass wir zahlreiche menschliche Fossilien aus Afrika haben, die diese nach wie vor unterstützen und dass weitere Fossilienfunde irgendwo auf der Welt das Bild wieder vollkommen verändern können. Wir sprechen hier über Jahrmillionen (7 Jahrmillionen), in denen wir hunderttausende Jahre lange Fossillücken haben. In diesen Lücken können sich Homini-Arten entwickelt und verbreitet haben und später wieder ausgestorben sein, von denen wir mangels fossiler Spuren nie etwas erfahren werden. Vielleicht ist Graecopithecus freybergi auch nur eine der zahlreichen evolutionären Sackgassen und ist weder ein Vorfahre der Menschen noch anderer Affen. Vielleicht ist die Arteinordnung oder die Datierung falsch. Von derart alten Fossilien läßt sich keine DNS gewinnen und alle Schlüsse müssen anhand von Morphologie, Erdschicht des Fundes und Fundumfeld gezogen werden.
Sahelanthropus tchadensis (6-7 Mio. Jahre, Fundort Tschad)
Der an sich gut erhaltene, namensgebende Schädel wurde als Oberflächenfund in lockerem Sandboden gefunden. Dadurch ist eine der nach wie vor wichtigsten Altersbestimmungsmethoden, nämlich die Zuordnung zu einer geologischen Schicht, nahezu unbrauchbar. Entsprechend vage wird das Alter mit 6-7 Millionen Jahren nur sehr ungenau geschätzt. Nicht nur ist diese Datierung ungenau, sondern auch nicht sicher richtig. Je weniger Sicherheit hinsichtlich der Erkenntnisse über den Fund, umso mehr Raum für Spekulationen: Demnach könnte Sahelanthropus tchadensis vor, nach oder während der Spaltungsphase der menschlichen von der Schimpansenlinie liegen. Oder aber auf der Linie zum Gorilla, oder….. wir wissen es wohl einfach nicht. Angesichts der wahrscheinlich sehr großen Zahl unbekannter Arten (oder auch nur nicht gefundener Fossilien) und der Tatsache, dass Fossilienfunde aus jüngeren Epochen anzeigen, dass es auch zahlreiche ausgestorbene Homini-Arten gibt (z.B. den Neandertaler), von denen wir also nicht direkt abstammen, erscheint es mir am wahrscheinlichsten, dass auch Sahelanthropus tchadensis auf irgendeiner ins Leere gelaufenen Entwicklungslinie liegt.
Ororin tugenensis (6 Mio. Jahre, Fundort Kenia)
Zu O. tugenensis werden Funde aus einer Fundstätte in den Tugenbergen 250 km westlich von Nairobi zugeordnet. Schon 1974 wurde hier ein Backenzahn eines Urmenschen/Uraffen gefunden, aber erst im Jahr 2000 kamen zwei Unterkieferbrüchstücke mit 3 Molaren und fünf einzelne, lose Zähne, zwei Fingerknochen, ein Oberarmknochenteil und ein Oberschenkelknochen hinzu. Wegen der Bedeutsamkeit der Funde im Jahr 2000 wird O. tugenensis zuweilen auch als „Millenium-Mensch“ bezeichnet. Die um die 6 Mio. Jahre alten Knochenfossilien wurden in verschiedenen geologischen Schichten an verschiedenen Fundstellen gefunden und weisen möglicherweise ein paar hundertausend Jahre Altersunterschied zueinander auf. Die aus den Funden gezogenen Schlussfolgerungen, es handele sich um eine Art, die in der direkten Entwicklungslinie zum modernen Menschen liege und somit Kenia zur Wiege der Menschheit mache, sind mindestens gewagt, wenn nicht gar reine Spekulation.
Ardipithecus kadabba (5,6 Mio. Jahre, Fundort: Afar Senke, Äthiopien)
Zunächst wurden die zwischen 1992 und 2001 in der äthiopischen Afar Senke gemachten Fossilienfunde den etwa eine Millionen Jahre jüngeren Ardipithecus ramidus Fossilien zugeordnet. Weitere Funde, Ende 2002, führten zu einer Neueinordnung als eigene Art. Ardipithecus kadabba sei „primitiver“ gebaut und teile mehr Merkmale mit Sahelanthropus und Ororin als mit späteren Ardipithecen. Allerdings wurden auch schon Zweifel an der Zuordnung von Ardipithecus kadabba zu den Homini geäußert.
Ardipithecus ramidus (4,4 Mio. Jahre, Fundort: Afar Dreieck, Äthiopien)
Im Oktober 2009 zierten Ardipithecus ramidus Knochen, die entsprechend ihrer anatomischen Lage zu einem Skelett angeordnet waren, die Vorderseite des renommierten Fachblattes „Science“. Die Tatsache, dass man genug Knochen dieser Art hat, um sie zu einem gut erkennbaren Skelett anordnen zu können, erlaubt uns recht gute Vorstellungen davon, wie Ardipithecus ramidus ausgesehen haben könnte. Zuweilen wird er auch als möglicher Kandidat, der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und Schimpanse gewesen zu sein, gehandelt.
Obwohl die langen Arme „Ardi“ als Baumbewohner auswiesen, ergaben ausführliche Untersuchungen von Zehenknochen und des Beckens (u.a. mit Computertomographen) starke Hinweise auf einen aufrechten Gang. Interessant ist hierbei der Lauffuß, der noch mit oponierbaren Großzehen, die das Greifen mit den Füßen erlaubten, ausgestattet war. Zusammen mit den langen Armen weist dies auf ein Leben in den Bäumen hin. Die Knochen der Hände und Vorarme legen nahe, dass die Hände von Ardipithecus ramidus weniger steif und stabil waren als die eines heutigenSchimpansen oder Gorillas, was darauf hinweist, dass der vier-pedale Knöchelgang (noch) nicht (mehr) so oft zum Einsatz kam und die Fortbewegung am Boden eher zweibeinig war. Dadurch hatte Ardipithecus ramidus die Hände frei für andere Dinge.
Unbewusst schwingt bei solchen Überlegungen aber immer das lineare Modell evolutionären Fortschritts mit, in dem wir uns als den Höhepunkt der Evolution sehen. Hinsichtlich der Fortbewegung haben wir die Tendenz, den zweibeinigen aufrechten Gang als eine fortschrittliche Weiterentwicklung gegenüber dem vier-pedalen Knöchelgang zu werten. Aber vielleicht war bei den Schimpansen und Gorillas die vier-pedale Fortbewegung das bessere Modell? Sicherlich lassen sich Verletzungen eines Beines von „Vierbeinern“ besser kompensieren als von „Zweibeinern“. Vielleicht hat der letzte gemeinsame Vorfahr schon ähnlich dem Ardipithecus ramidus eine starke Neigung zum aufrechten Gang gehabt und die Schimpansen haben daraus den für ihre Art erfolgreichen vier-pedalen Knöchelgang entwickelt? Schimpansen waren seit dem letzten gemeinsamen Vorfahre ebenfalls 6-7 Millionen Jahre langem evolutionären Druck ausgesetzt und haben sich auch angepasst und entwickelt.
Die Ausgrabungen, welche die Ardipithecus ramidus Fossilien ans Licht brachten, führten auch zur Entdeckung tausender Fossilien anderer Tier und Pflanzenarten: Nagetiere, Affen, Hyänen, Elefanten, Vögel, aber auch pflanzliche Fossilien, fossilisierte Hölzer und Pflanzensamen. Diese Fundkontextualisierung passt zu einem artenreichen Waldhabitat, vergleichbar mit heutigen Urwäldern. Die seit etwa 50 Jahren vorherschende Ansicht, dass sich die menschliche Abstammungslinie am ehesten in einer offenen Savannenlandschaft ausbildete, wird durch Ardipithecus ramidus infragegestellt. Das Gehirnvolumen des Ardipithecus ramidus lag bei etwa 300-350 Kubizentimetern und war somit etwas kleiner als ein Gehirn eines heutigen Schimpansen.
Australopithecinen: Die Südlichen Affen (oder doch Menschen?)
Derzeit werden 5 Arten der Gattung Australopithecus zugeordnet:
A. anamensis (4,2-3,9 Mio. Jahre, Fundorte: Ostafrika)
A. afarensis (3,8-2,9 Mio. Jahre, Fundorte: Ostafrika, Lucy!)
A. africanus (3,0-2,1 Mio. Jahre, Fundorte: Südafrika, Taung-Kind!)
A. garhi (um 2,5 Mio. Jahre, Fundort: Äthiopien)
A. sediba (1,95-1,78 Mio. Jahre, Fundort: Südafrika)
Zuweilen wird auch Kenyaanthropus platyops (3,5-3,3 Mio. Jahre, Fundorte: Turkanasee, Kenia) den Australopithecinen zugeordnet. Bisher wurde allerdings nur ein vollkommen zertrümmerter Schädel dieser Art gefunden, dessen Zusammensetzung einen möglichwerweise falschen morphologischen Eindruck erweckt, so dass es ernstzunehmende Stimmen gibt, die sagen, man hätte basierend auf einem Fund derart schlechter Qualität keine eigenen neue Gattung (Kenyaanthropus) postulieren sollen, da die Wahrscheinlichkeit, dass die Schädeltrümmer von einer bereits bekannten Art (z.B. A. afarensis) stammten, sehr hoch sei.
Die Paranthropus Gattung
Die Paranthropus Gattung gilt als eine ausgestorbene Parallellinie der Australopithecinen und frühen Hominiden, wobei die Abgrenzung zu den Australopithecinen zuweilen als umstritten gilt, weshalb manchmal auch
von Australopithecus aethiopicus statt von P. aethiopicus (2,8-2,3 Mio. Jahre),
von Australopithecus boisei statt von P. boisei (2,3-1,4 Mio. Jahre) oder
von Australopithecus robustus statt von P. robustus (2,0-1,5 Mio. Jahre)
die Rede ist. Ob als eigene Gattung oder als Arten der Gattung Australopithecus – gemeinsam ist diesen drei „Paranthropus“ Arten die Einordnung auf einer ausgestorbenen Seitenlinie. Aus unserer Homo sapiens-zentrierten Sicht liegen sie also auf einem Abstellgleis.
Australopithecus anamensis (4,2-3,9 Mio. Jahre, Fundorte: Ostafrika)
A. anamensis ist der älteste bekannte Vertreter der Gattung Australopithecus. Die Kiefer ähnelten denen heutiger Schimpansen, jedoch waren die Zähne eher hominid (kleiner). Die Fossilienfunde reichen von der Turkanaseeregion nach Norden bis Nordäthiopien. Die meisten Funde wurden um den Turkanasee gemacht, wo es zu Lebzeiten dieser Art häufig zu Vulkanausbrüchen kam, denen wohl auch Individuen von A. anamensis zum Opfer fielen, deren Fossilien zwischen einer 4,35 Millionen Jahre alten Basaltstromschicht und einer 3,89 Millionen Jahre alten Ascheschicht (Tuff) gefundenen wurden. Möglicherweise ist die jüngere Art A. afarensis tatsächlich direkt aus A. anamensis hervorgegangen.
Australopithecus afarensis (3,8-2,9 Mio. Jahre, Fundorte: Ostafrika)
Die mehr als 900 A. afarensis Fossilienfunde decken sich von Nordäthiopien bis Nordkenia mit denen von A. anamensis, reichen jedoch viel weiter nach Süden bis nach Südtansania. Möglicherweise ist A. afarensis tatsächlich durch Anagenese (Aufwärts- oder Weiterentwicklung) aus A. anamensis hervorgegangen. Eine Darstellung von aufeinanderfolgenden Seitensansichten dieser Arten wie in unseren Evolutionskarikaturen wäre also in diesem Fall berechtigt.
Im November 2013 setzte ich mich eines Nachmittags klammheimlich von einer Konferenz in Addis Abeba ab, um einen uralten Superstar zu sehen: Lucy! Ich konnte Lucy 2013, kurz nachdem Sie aus Amerika zurückgekehrt war, im äthiopischen Nationalmuseum bewundern. Wie ich später in Erfahrung brachte, handelte es sich jedoch nur um die Kopien ihrer Knochen. Die Originalknochen werden seit der Rückkehr nach Äthiopien ins Nationalmuseum in einem Tresor verwahrt. Dennoch vermag dieses Skelett auch als Kopie Ehrfurcht einzuflößen: Keine Spezialeffekte, ein einfacher Ausstellungsglaskasten, Bestattungsort und Ehrenmal für eine der berühmtesten Menschenvorfahren.
Australopithecus afarensis hat also mit Lucy einen Star der Populärkultur hevorgebracht, eine (vermutlich) junge Frau (oder ein Mädchen). Aufgrund des für Australopithecus afarensis postulierten Geschlechtsdimorphismus erschien das Skelett, das Ende 1974 in Hadar im Nordosten Äthiopiens gefunden wurde, den Paläontologen am ehesten weiblichen Geschlechts und möglicherweise noch nicht vollkommen ausgewachsen gewesen zu sein. Im Jahr 2006 wurde im Afar Dreieck ein sehr gut erhaltener Kleinkindschädel eines etwa 3,3 Mio. Jahre alten A. afarensis gefunden, das von den Paläontologen Salem (Frieden) genannt wurde, zuweilen aber im Jargon inkorrekterweise auch mit „Lucy’s Baby“ bezeichnet wird.
Viele wichtige A. afarensis Fossilien wurden in Laetoli, etwa 50 km südlich der für Human-Fossilien bekannten nordtansanianischen Olduvai-Schlucht, gefunden. Die berühmten Fußspuren von Laetoli stammen von Büffeln, Antilopen, Pavianen, Schweinen, Hyänen und von 2 aufrecht bipedal gehenden Wesen, die menschenähnliche Füße hatten. Wahrscheinlich liefen diese beiden A. afarensis durch noch feuchte Vulkanasche des Vulkans Sadiman. A. afarensis lief also aufrecht auf zwei Beinen, hatte aber noch die für Baumbewohner typischen langen Arme. Die Zähne waren größer als Menschenzähne aber kleiner als Affenzähne. Der aufrechte Gang hatte sich wohl schon lange vor der Entstehung besonders großer Gehirne entwickelt (das Gehirn von A. afarensis hat etwa ein Dritttel der Größe unserer Gehirne).
Australopithecus africanus (3,0-2,1 Mio. Jahre, Fundorte: Südafrika)
Das bereits erwähnte Taung-Kind, dessen Schädel 1924 etwa 400 km westlich von Johannesburg in Südafrika gefunden wurde, war der erste Frühmenschen-Fossilienfund in Afrika. Der Gattungsbegriff „Australopithecus“ wurde also hier erstmals eingeführt: „Südlicher Affe“. Wie oben beschrieben, wurde das Taung-Kind wohl Opfer eines Adlers, was zeigt, das Australopithecus irgendwo in der Mitte der Nahrungskette angesiedelt war und oft zur Beute wurde. Das Gehirn von A. africanus ist etwas größer als von A. afarensis und die Zähne sind etwas kleiner. Weitere Funde wurden in Sterfontein nordwestlich von Johannesburg gemacht, darunter ein 2,1 Mio. Jahre alter Schädel, der zeigt, dass diese Art zu dieser Zeit noch existierte und zahlreiche Zähne in der nahen Gladysvale Höhle, deren Beschaffenheit A. africanus als wahscheinlichen Pflanzenfresser ausweißt.
Australopithecus garhi (um 2,5 Mio. Jahre, Fundort: Äthiopien)
Das Typusexemplar von A. garhi besteht aus einem Schädel mit Oberkieferfragment und großen Backenzähnen und wurde 1997 im Afar Dreieck in Äthiopien nahe des Dorfes Aramis gefunden. Inzwischen wurden auch andere Australopithecus Knochen, die in der Umgebung des Typusexemplars gefunden wurden, A. garhi zugeordnet, wobei nur der Schädel-Typus eindeutig der Art A. garhi zugeordnet werden kann, während für die anderen Knochen auch die andern Australopithecinen in Frage kommen. Wenn die Knochenzuordnung jedoch korrekt ist, dann hatte A. garhi, wie die anderen Australopethicinen, lange Arme und ein Gehirn, das etwa 1/3 so groß war wie unser Gehirn und, im Vergleich zu anderen Australopithecinen, längere Oberschenkelknochen. In der Fundumgebung wurden in passenden geologischen Schichten Tierknochen mit Ritzspuren gefunden, die ein Zeichen für Werkzeuggebrauch sein könnten. Dass ebenfalls aus Umgebungsfossilien rekonstruierte Habitat wird als Savannenlandschaft mit Frischwasser-Seen beschrieben. Für A. afarensis wird hingegen dichter Wald als Lebensraum vermutet. Längere Oberschenkelknochen könnten beim savannenbewohnenden A. garhi auf eine Anpassung an die offenere Landschaft hinweisen.
Australopithecus sediba (1,95-1,78 Mio. Jahre, Fundort: Südafrika)
Im Jahr 2008 wurden in Südafrika in der Malapa Höhle nahe Johannesburg zwei recht komplette Skelette gefunden, deren Beckenmerkmale teilweise Ähnlichkeit mit solchen der Gattung Homo aufweisen, während allerdings Gesamthabitus und Schädel mit dem recht kleinen Gehinvolumen von 420 cm2 eher zur Gattung Australopithecus passen.
Australopithecus bahrelghazali (3,5-3,0 Mio. Jahre, Fundort Tschad)
Im Jahr 1995 wurde bei Koro Toro im Tschad ein Unterkiefer gefunden. Sowohl die Datierung als auch die Einordnung in die Australopithecus Gattung sind umstritten. Falls A. bahrelghazali tatsächlich ein Australopithecus gewesen sein sollte, würde sich ein weiteres Ausbreitungsgebiet der Australopethicinen in Westafrika bestätigen.
Die Gattung Homo
Wenn man die Einordnung von Homo rudolfensis und Homo habilis in die Gattung Homo akzeptiert, sind deren zwischen 2,5 Mio. und 1,5 Mio. Jahre alten Funde die ältesten Überbleibsel der Gattung. Eigentlich ist die Abgrenzung zwischen Hominiden und Australopithecinen ohnehin eher artifiziell und von der Gattungsdefinition abhängig. Interessanter wäre es zu wissen, wo die Artgrenzen verlaufen, also, wenn man die klassiche Artdefinition heranzieht, ob ein Männchen und ein Weibchen miteinander fortpflanzungsfähigen Nachwuchs zeugen konnten und ob sie dies tatsächlich getan haben und, wenn ja, in welchem Ausmaße. Dies wird sich möglicherweise bei den älteren Hominiden nie klären lassen, da sich kaum Verhaltens- und Interaktionsinformationen gewinnen lassen. Bestenfalls das Auffinden gruppierter Fossilien, die z.B. von einem Familienverband stammen könnten, ließe das Anstellen hochspekulativer Erwägungen zu. Aus alten durchmineralisierten Fossilien läßt sich auch keine DNS gewinnen. Informationen aus Millionen von Jahren alten Fossilien, beruhen auf morphologischen Vergleichen von Knochen, der geologischen Schicht und der Altersbestimmung, sowie von Artefarkten, die im Umfeld des Fundes eingebettet waren.
Vor 2 Millionen Jahren lebten Homo rudolfensis, Homo habilis und Homo erectus als Zeitgenossen auf der Erde. Inwiefern sie einander begegneten, ist anhand der insgesamt doch wenigen Fossilien und der oft hohen Ungenauigkeit der zeitlichen Einordnung nur schwer abzuschätzen. Von allen drei Homo Arten wurden Fossilien in Ostafrika gefunden, so dass immerhin wahrscheinlich erscheint, dass sie hier in geographischer Nähe mit möglichen Lebensraumüberschneidungen lebten. Ist eine dieser Arten ein direkter Vorfahre des Menschen? Zeugten die 3 Menschenarten miteinander Nachwuchs?
Leider sind die Fossilien zu alt, als dass wir darauf hoffen könnten, noch DNS zur Aufklärung von Verwandschaftsbeziehungen zu gewinnen. Zudem klafft in der wohl kritischen Phase der Menschwerdung vor 2-3 Mio. Jahren zwischen den Fossilien von A. afarensis (Lucy, bis vor 3 Mio. Jahren) und denen der ersten Hominiden, die interessanterweise aus recht nahe beieinanderliegenden Regionen Äthiopiens stammen, eine etwa 500-750.000 Jahre lange Lücke im Fossilienfundbestand (19). Ein halber Unterkiefer mit eingebetteten Molaren, der kürzlich in der Afar Region in Äthiopien gefunden wurde, zeigt Charakteristika eines HomoUnterkiefers. Er wurde auf etwa 2,8 Mio. Jahre datiert und stellt nun eine wichtige Insel in der fossilienfreien Lücke zwischen Australopithecinen und Hominiden dar.
Exkurs: Arten der Gattung Homo, die keine Zeitgenossen des Homo sapiens waren (Homo rudolfensis, Homo habilis, Homo ergaster)
Homo rudolfensis (2,5-1,5 Mio. Jahre, Fundorte: Kenia, Äthiopien, Malawi)
H. rudolfensis ist der erste bislang bekannte Vertreter der Gattung Homo. Angesichts der Altersdatierungen der Funde wäre H. rudolfensis ein Zeitgenosse der späteren Australopithecinenarten gewesen. Zeitliche Überlappungen gibt es mit A. africanus (3,0-2,1 Mio Jahre), A. sediba (1,95-1,78 Mio. Jahre) und eventuell mit A. garhi (um 2,5 Mio. Jahre).
Der Turkanasee wurde 1975 von der Kenianischen Regierung nach der dort ansässigen Volksgruppe benannt. Vor seiner Umbenennung wurde er zu Ehren des Kronprinzen Rudolf von Österreich-Ungarn im 19. Jahrhundert Rudolfsee genannt. Das Typusexemplar von H. rudolfensis, ein zahn- und unterkieferloser Schädel, wurde im Jahr 1972 vor der Umbenennung des Sees gefunden und auf etwa 1,9 Millionen Jahre datiert. Außer am Turkanasee wurden weitere Funde in Äthiopien (in der Nähe des Omo Flussess, der in den Turkanasee mündet) und in Malawi gemacht, wobei der in Malawi gefundene 2,5 Millionen Jahre alte Unterkiefer die Existenz der Art H. rudolfensis in deutlich länger zurückliegende Zeiten projeziert hat.
Morphologisch wird der H. rudolfensis als Übergangsart zwischen Australopithecinen und Hominiden gesehen. Zwischenzeitlich wurde auch erwogen, bei dem H. rudolfensis Typusexemplar-Schädel vom Turkanasee könne es sich um einen Vetreter der Art Kenyananthropus platyops handeln. Wie oben beschrieben, ist von dieser Art nur ein vollkommen zertrümmerter Schädel gefunden worden, dessen Zusammensetzung einen falschen morphologischen Eindruck erweckt haben könnte. Für den K. platyops Schädel ist es also eher umstritten, ob er eine eigene Art repräsentiert. Wenn man die Argumentation entsprechend umdreht, könnte man sich fragen, ob der K. platyops Trümmerschädel nicht auch ein Exemplar von H. rudolfensis sein könnte. Allerdings ist auch umstritten, ob H. rudolfensis eine eigene Art darstellt oder besser unter den Australopithecinen oder sogar den Homo Arten (H. habilis oder H. errectus) einzuordnen wäre. Für die Gattung Homo spricht das große Hirnvolumen von etwa 750 cm3. Leider läßt sich aus derart alten, durchmineralisierten Fossilien keine DNS gewinnen, um phylogenetische Stammbäume zu erstellen. Und welche (deklarierte) Art mit welcher deklarierten Art fortpflanzungsfähige Nachkommen zeugen konnte, ist hochspekulativ. Sämtliche Artzuordnungen bei Millionen von Jahre alten Fossilien beruhen auf Vergleichen der Knochenmorphologie und der Altersbestimmung der Funde.
Homo habilis (2,1-1,5 Mio. Jahre, Fundorte: Tansania, Kenia, Äthiopien, Südafrika)
Auch Homo habilis wird nicht zweifelsfrei und unangefochten der Gattung Homo zugeordnet. „Habilis“ bedeutet geschickt und ist dem Umstand geschuldet, dass in den Schichten der H. habilis Funde zahlreiche Steinwerkzeuge vom „Oldowan Typ“ gefunden wurden (abgeleitet von der Olduvai-Schlucht in Tansania, wo erstmals solche Funde gemacht wurden). Hierbei handelt es sich um bearbeitete Steine, die in der Deutschen Sprache gerne als „Faustkeile“ bezeichnet werden. Mit den Faustkeilen wurden wohl schlagende und mahlende Tätigkeiten durchgeführt, was aber nicht unbedingt eine vorherige Bearbeitung eines Steins erfordert haben würde. Die „Oldowan-Werkzeuge“ waren jedoch so beschlagen, dass auf einer Seite eine scharfe Kante entstand. Wahrscheinlich konnte Homo habilis damit Tierkörper von Beutetieren öffnen. Somit musste H. habilis tierische Nahrung nicht mehr mit den Zähnen aufreisen, was möglicherweise zu einer Rückbildung des menschlichen Gebisses führte (feinere Zähne, keine Reißzähne mehr). Das ist so weit gegangen, dass der moderne Mensch mit seinem Gebiss kaum noch in der Lage wäre, mit den Zähnen einen Antilopenkörper zu öffnen. Besondere Bedeutung könnte das Öffnen der Knochen gehabt haben, was das Aussaugen des Knochenmarks erlaubt haben würde. Bei kleinen Hominiden irgendwo in der Mitte der Nahrungskette könnte der Knocheninhalt abgenagter Tierkadaver eine wichtige Eiweißquelle gewesen sein. Manche Hypothesen halten das Knochenmark gar für die Nahrungsquelle, die die menschliche Hirnentwicklung vorangebtrieben hat. Offenbar haben aber auch schon Australopithecinen Knochen aufgebrochen, was fast 3,5 Millionen Jahre alte Knochenfunde mit Kratzspuren aus der Afar Region in Äthiopien nahelegen (20). Leider gibt es von H. habilis nur wenige fossile Spuren. Wenn H. habilis also die Brücke zwischen den Australopithecinen und den Vertretern der Gattung Homo darstellt ist diese noch sehr schmal und lückenhaft.
Homo ergaster (1,9-1,4 Mio. Jahre)
Nach derzeit gängiger Einschätzung ist Homo ergaster aus H. rudolfensis hervorgegangen. Gemäß der Datierungen der bisherigen Fossilienfunde, aus Süd- und Ostafrika, lebte H. ergaster vor 1,9-1,4 Millionen Jahren und wäre somit Zeitgenosse von H. habilis und Paranthropus/Australopithecus boisei gewesen. Prominenter Vertreter der Art Homo ergaster ist der „Turkana Boy“, ein etwa 1,6 Mio. Jahre altes, nahezu vollständiges Skelett (lediglich Hand- und Fußknochen fehlten) eines etwa 8-12 jährigen Jungen, welches 1984 am Turkanasee in Kenia gefunden wurde. Viele H. ergaster Fossilien stammen von unter 14-Jährigen, was auf eine im Durchschnitt wohl eher kurze Lebensdauer hinweist. Mit Ergaster Fossilien werden oft auch bearbeitete Steinobjekte gefunden, was auf gewisse Fertigkeiten im Umgang und in der Herstellung von Gebrauchsobjekten schließen läßt. Auch wird vermutet, das Homo ergaster das Feuer nutzte.
Möglicherweise war H. ergaster die afrikanische Variante des Homo erectus. Nach der Out of Africa I Hypothese war Homo erectus die erste Menschenart, die Afrika verließ und auch Lebensräume im Eurasischen Raum erschloss. Die meisten Paläoanthropologen sehen in Homo ergaster die afrikanische Homo erectus Art, von der sich also Vertreter auf den Weg gemacht haben, andere Regionen der Erde zu erschließen, wo sie Fossilien hinterließen, die als H. erectus bezeichnet wurden.
Homo erectus (1,9 Mio. – 70.000 Jahre)
Nach derzeitigem Kenntnisstand war H. erectus die erste Menschenart, die Afrika verließ und auch Lebensräume im eurasischen Raum erschloss (Out of Africa I). Unter H. erectus werden von den Lumpern eine kaum überschaubare Zahl von Fossilienfunden aus aller Welt in einem Zeitraum, der fast 2 Millionen Jahre umfasst, zusammengefasst (Tabelle 2). Ob jedoch ein H. erectus, der vor 1,5 Mio. Jahren lebte, mit einer H. erectus Dame, die vor 200.000 Jahren lebte die biologische Artdefinition erfüllen würde und für die Zeugung von fortpflanzungsfähigen Nachkommen kompatibel gewesen wäre, wage ich zu bezweifeln. Durch die globale Ausbreitung und die lange Artbestandsdauer von fast 2 Millionen Jahren ist davon auszugehen, das sich durch genetische Veränderungen über die Zeit (Genshift, Mutation, Selektion, Rekombination) verschiedene Unterarten des H. errectus herausbildeten. Durch die große Verbreitung waren solche Unterarten auch meist räumlich voneinander getrennt, wodurch die allopatrische Artbildung, die eine geographische Isolation von mindestens zwei Teilpopulationen über lange Zeit vorraussetzt, begünstigt wird.
Tabelle 2: Unterarten des H. erectus, Fundorte und Altersschätzung der Funde
Homo erectus Unterart (21) | Fundorte | Altersschätzung der Funde |
H. erectus erectus (1) | Solo Fluß, Ost Java | 1,66 – 0,9 Mio. (oder 0,14 Mio.?) |
H. erectus yuanmouensis (2) | Yunnan Provinz, China | umstritten |
H. erectus lantianensis (3) | Shaanx Provinz, China | 1,15 Mio. Jahre |
H. erectus nankinensis (4) | Jiangsu Provinz, China | 0,62-0,58 Mio. Jahre |
H. erectus pekinensis (5) | Peking, China | 0,78-0,40 Mio. Jahre |
H. erectus palaeojavanicus (6) | Java | 1,4-0,9 Mio. Jahre |
H. erectus soloensis (7) | Java (Solo Fluss) | 0,55-0,14 Mio. Jahre |
H. erectus tautalevensis (8) | Südfrankreich | 0,45-0,3 Mio. Jahre |
H. erectus georgicus (9) | Dmanisi, Georgien | 1,8 Mio. Jahre |
|
|
|
1. Java-Mensch
2. Yuanmou-Mensch (lediglich 2 Schneidezähne als artdefinierende Fossilien verfügbar)
3. Lantian-Mensch
4. Nanjing-Mensch
5. Peking-Mensch
6. Meganthropus
7. Solo-Mensch
8. Tautavel Mensch
9. Dmanisi-Mensch
Wenn neuere Datierungen von Homo erectus Fossilien aus dem Solo Fluss in Ngandong (Java) korrekt sind, gab es den H. erectus noch bis vor 140.000 Jahren, möglicherweise bis vor 70.000 Jahren (21) also als Zeitgenosse des modernen Menschen H. sapiens. Allerdings ist die Altersdatierungen bei solchen Flussschwemmfossilien mit Vorsicht zu genießen. Die weite Verbreitung des Homo erectus veranlasst manche Paläontologen, die zweifache Out of Africa Hypothese in Frage zu stellen, nach der vor mehr als 1,8 Mio. Jahren Menschen der Art Homo erectus den afrikanischen Kontinent verlassen und sich in Eurasien ausgebreitet hatten (Out of Africa I) und später, vor etwa 60-70.000 Jahren, der Homo sapiens erneut den afrikanischen Kontinent verlassen hat (Out of Africa II). Denkbar erscheint auch die Fortsetzung der evolutionären Linien der weit verbreiteten verschiedenen H. erectus Arten zum H. sapiens. Heutige Ostasiaten hätten sich demnach direkt aus den Ostasiatischen H. erectus entwickelt, ohne dass eine neue Welle H. sapiens nach Out of Africa II den eurasischen Kontinent neu besiedelt hätte. Diese Theorie setzt allerdings vorraus, dass es eben nicht zur allopatrischen Artdiversifizierung mit Ausbildung distinkter Arten über die Zeit kommt, weshalb die Theorie der multiregionalen Evolution des Menschen nur von einer Minderheit der Paläontologen vertreten wird. Auch die durch Genomvergleiche gestützte Zugehörigkeit aller heute lebenden Menschen zur Art Homo sapiens mit universeller Fortpflanzungsfähigkeit untereinander lässt die Theorie der multiregionalen Evolution des Menschen unwahrscheinlich erscheinen. Gängiger ist die Ansicht, dass es sich bei den H. erectus Fossilien Ostasiens am ehesten um inzwischen ausgestorbene Menschenarten handelt, also um ausgelöschte Linien der menschlichen Evolution und dass sich der Homo sapiens in der Tat vor 60- 70.000 Jahren von Afrika ausgehend über die ganze Welt verbreitet hat (Out of Africa II).
Homo naledi (0,3 Mio. Jahre)
Zunächst wurden die Funde, die 2013 in der Rising Star Höhle in Südafrika gemacht wurden aufgrund archaisch anmutender morphologischer Merkmale wie der geringen Größe und des relativ geringen Schädelinnenvolumens als Übergang zwischen den Australopithecinen und den Hominiden gewertet. Die Datierung ergab dann aber ein überraschend junges Alter der Knochen von nur etwa 300.000 Jahren (22), was suggeriert, dass H. naledi eher kurz vor oder mit dem Auftauchen des H. sapiens lebte oder gar ein Zeitgenosse war . Ob Homo naledi eine eigene Art darstellt oder doch eher in eine der existierenden Arten, vor allem des Homo erectus, eingeordnet werden sollte wird intensiv debatiert.
Homo heidelbergensis (0,7-0,2 Mio. Jahre)
Ursprünglich wurden die zunächst nur in Europa gemachten H. heidelbergensis Funde der Linie die vom H. erectus zum Neandertaler führt, zugeordnet. Die meisten H. heidelbergensis Funde wurden in nördlichen Klimazonen gemacht, die zu Lebzeiten der Art deutlich kälter waren als die meisten Habitate, in denen sich Menschenarten entwickelt hatten. Durch Funde in Afrika (H. rhodesiensis), Indien und China, die ebenfalls dem H. heidelbergensis zugeordnet wurden gibt es jetzt aber auch die Ansicht, dass H. heidelbergensis auf einer gemeinsamen Linie lag, die vom H. erectus zum modernen Menschen H. sapiens und zum Neandertaler führte.
Im Braunkohletagebau Schöningen zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt wurden etwa 320.000 Jahre alte Speere und Alltagsgegenstände und auf Jagd auf große Tiere hinweisende Tierknochen (Pferde, Wisente, Waldelefanten) gefunden. Diese gelten als Zeichen für einen hohen Entwicklungsstand der späten H. heidelbergensis, die in der Lage waren, Unterkünfte aus Holz und Laub zu bauen, das Feuer beherrschten und Jagd auf große Tiere machten.
Homo antecessor (780.000 Jahre)
Ob Homo antecessor eine eigene Art darstellt oder die entsprechenden Funde als frühe Homo heidelbergensis eingeordnet werden sollten, ist nach wie vor umstritten. Die ersten H. antecessor Funde wurden 1976 in Atapuerca in Nordspanien am Jakobsweg in der Höhle „Sima de los Huesos“ (Knochengrube) gemacht. In der nahegelegenen Höhle „Gran Dolina“ wurden weitere Homo- und Tierknochenfossilien bei systemischen Ausgrabungen entdeckt. Die Funde in Spanien waren insofern spektakulär, da durch sie eine frühere Präsenz von gemäß aus Afrika ausgewanderten Menschen in Europa belegt wurde als zu diesem Zeitpunkt (1978) angenommen worden war.
Charakteristische von Steinwerkzeugen herrührende Kratz und Schnittspuren auf H.antecessor Knochen wurden als Hinweis für Kanibalismus aufgefasst (23).
Die Zeitgenossen des modernen Menschen
Je nach Betrachtungsweise wird die Existenz des Homo sapiens auf 200-300.000 Jahre taxiert. Je weiter diese Zeit in die Vergangenheit ausgedehnt wird, umso schwächer ist die Aussagekraft der fossilen Spuren. Bei durch und durch versteinerten älteren Fossilien wird lediglich die Morphologie beurteilt und anhand der Umgebungsschicht und/oder eventuell anhaftender Sedimente das Alter bestimmt. Aus neueren, gerade mal ein paar zehntausende von Jahren alten Knochenfunden kann man heutzutage sogar DNS gewinnen und somit genetische Vergleichsstudien anstellen. Dies ist für den berühmten Neandertaler bereits gelungen, dazu später mehr (24).
Die Unsicherheit bei der Abschätzung, bis wann der H. erectus auf der Erde Bestand hatte, ist groß. Die Flussfunde, z.B. im Solo Fluss auf Java sind schwer zu datieren, da hier verschiedene Schichten wild durchmischt wurden und auch hinsichtlich der Breite der Art Homo erectus ist es immer wieder schwer zu sagen, welche Fossilien noch dieser Art zugeordnet werden sollen (was ist z.B. mit dem H. heidelbergensis?). Dennoch muss man wohl davon ausgehen, dass die frühen Generationen des Homo sapiens Zeitgenossen der Art (der Arten?) Homo erectus waren, aus deren afrikanischem Stamm sie ja wahrscheinlich hervorgegangen sind. Inwieweit das Genom des modernen Homo sapiens DNS des Homo erectus enthält lässt sich (noch) nicht sagen, da sich aus den durchversteinerten H. erectus Fossilien (noch) keine DNS gewinnen lässt.
Aber auch ohne den H.erectus in die Betrachtungen einzubeziehen, ist es sicher, dass es zu Lebzeiten des Homo sapiens andere Menschenarten gab: Während der Homo sapiens heute als einziger Vertreter der Gattung Homo gilt, gab es noch vor 30-40.000 Jahren andere Menschenarten. In den letzten hundertausend Jahren sind da insbesondere der Neandertaler (bis vor 30.000 Jahren), der Denisova Mensch (bis vor etwa 60.000 Jahren) und der Homo floresiensis (bis vor 60.000 Jahren oder gar nur 18.000 Jahren) zu nennen.
Homo floresiensis („Hobbit“)
Insellagen führten in der Evolution zur Entstehung einmaliger inselspezifischer Habitate und Ökosysteme, zuweilen mit endemischen Arten, die nirgendwo sonst auf der Welt vorkommen. Wir denken hier an die Echsenarten, die nur auf den Galapagosinseln vorkommen oder an die Lemuren, die eine ganze Teilordnung der Ordnung der Primaten bilden und nur auf Madagaskar vorkommen (Ordnung > Teilordnung > Familie > Gattung > Art). Aus der Familie der Hominidae (Menschenaffen) in der Unterfamillie der Homininae, im Tribus der Hominini in der Gattung Mensch gab es möglicherweise mit Homo floresiensis ebenfalls eine endemische Art, die durch die Abgeschiedenheit einer Insel entstanden war. Als im Jahr 2003 auf der indonesischen Insel Flores ein kleiner Schädel gefunden wurde, dessen Gebissmerkmale nicht zu einem Kind passten, der aber ansonsten eindeutig homonid war, erregte dies viel Aufregung unter Paläontologen. Der kleine H. floresiensiswird zuweilen auch mit dem Spitznamen „Hobbit“ bezeichnet, angelehnt an die Fantasieromane des britischen Autors Tolkien. Während Kaltblüter auf Inseln oftmals größer werden (Inselgigantismus – man denke an die Riesenschildkröten der Galapagosinseln), haben große Säugetiere, die Generationen auf Inseln ohne Verbindung zu Festlandpopulationen leben, die Tendenz, kleiner zu werden als ihre Artgenossen auf dem Festland (Inselverzwergung), wie z.B. bei Elefanten oder Büffeln zu beobachten.
Einige Datierungen ergaben ein sehr junges Alter von H. floresiensis Fossilien (bis zu 12.000 Jahre jung), allerdings liegt die derzeitig gängige Schätzung eher bei 50-60.000 Jahren (25). Versuche, DNS zu gewinnen, sind bislang gescheitert. Neue Hoffnung liegt in der Isolierung von in Zähnen erhalten gebliebenen Collagen-Proteinen und dem Vergleich ihrer Aminosäuresequenzen (26).
Je kürzer der Aussterbezeitpunkt von H. floresiensis zurückliegt, umso wahrscheinlicher sind Begegnungen mit H. sapiens. Prinzipiell könnten diese durch die Insellage von Flores verhindert worden sein, zumindest, wenn Flores das einzige Habitat des H. floresiensis gewesen sein sollte. Wie mögliche Kontakte verlaufen sind, und ob H. floresiensis und H. sapiens vielleicht sogar gemeinsame Nachkommen gezeugt haben, ist spekulativ. Vielleicht kam es zu Begegnungen mit anderen Menschenarten (H. erectus, H. sapiens), die für H. floresiensis fatal verlaufen sind (27, 28). Angesichts der immer wieder zu Tage tretenden genozidalen Tendenzen des H. sapiens wäre eine Ausrottung des H. floresiensis durch andere Menschenarten gut denkbar. Ein echter Durchbruch wäre zweifellos, wenn es gelänge, DNS von H. floresiensis zu gewinnen.
Homo neanderthalensis (300.000-30.000 Jahre)
Während sich in Afrika der H. sapiens entwickelte, waren Süd- Mittel- und Osteuropa Neandertalerland. Während der letzten Eiszeit, die von vor etwa 110.000 bis vor 12.000 Jahren andauerte lagen weite Teile Nordeurasiens bis hinunter nach Norddeutschland dauerhaft unter Gletschern. Da große Mengen Wasser in Landeis gebunden waren, war der Meeresspiegel weltweit niedriger, wodurch mehr Landverbindungen zwischen den Kontinenten bestanden, die auch breiter waren. Dies begünstigte die Ausbreitung von Landtierarten, darunter auch die des H. sapiens.
Begegnungen des H. sapiens mit Neandertalern, die vor 30-40.000 Jahren ausgestorben sind können nahezu als gesichert angesehen werden. Wie diese verlaufen sind, ob friedlich oder kriegerisch, ob die Arten sich mieden oder sozial interagierten, lässt viel Raum für Spekulationen und spannende Diskussionen, wobei immer wieder die unangenehme Frage mitschwingt, warum wir noch sind, die Neandertaler hingegen ausgestorben sind.
Was führte zum Verschwinden des Neandertalers?
Gemäß einer (möglicherweise zu linearen und vereinfachten) Vorstellung war H. erectus, welcher sich in der ersten Ausbreitungswelle über Eurasien ausbreitete (Out of Africa I), ein gemeinsamer Vorfahre, von dem sich H. sapiens und H. neanderthalensis vor etwa 700.000 Jahren begannen abzuzweigen und vor 300.000 Jahren tatsächlich zwei verschiedene (Unter-)Arten ausgebildet hatten. Die räumliche Trennung (H. sapiens in Afrika und H. neanderthalensis in Europa) begünstigte hierbei die allopatrische (Unter-)Artbildung. Direkter Vorfahre des Neandertalers könnte der H. heidelbergensis gewesen sein. Andere Paläontologen postulieren den H. heidelbergensis, von dem inzwischen zahlreiche Fossilien im südlichen Afrika und Ostafrika gefunden wurden,gar als gemeinsamen Vorfahre von H. sapiens und H. neanderthalensis.
Die Neandertaler waren im Vergleich zu Homo sapiens etwas kleiner, aber deutlich kräftiger und gedrungener im Körperbau. Sie hatten prominentere Augenwülste und einen massigeren Schädel, mit einem etwas größeren Schädelinnenvolumen und somit Gehirnvolumen als der Homo sapiens. Wie H. sapiens benutzten Neandertaler Werkzeuge, kontrollierten das Feuer und bestatteten ihre Toten. Neandertalerfunde erstrecken sich von Gibraltar über ganz Europa bis Westsibirien. Demnach lebte der Neandertaler in Eurasien, aber nicht in Afrika. Im menschlichen Homo sapiens Genom von Nicht-Afrikanern sind etwa 2-4% Neandertaler Sequenzen (17).
Zwölf spekulative Erklärungsversuch für das Aussterben des Neandertalers
Vor 30-40.000 Jahren sind also die Neandertaler, von denen Fossilien von Gibraltar über ganz Europa bis Westsibirien gefunden worden sind, aber nicht in Afrika, ausgestorben. Im Folgenden diskutiere ich Theorien zum Aussterben der Neandertaler. Allerdings würde ich die Theorien jeweils nicht für sich allein als schlüssige Erklärung für das Verschwinden der Neandertaler betrachten wollen, sondern eher als mögliche Faktoren, die zum Aussterben der Neandertaler mehr oder weniger beigetragen haben könnten.
Bei einigen dieser Theorien muss man kritisch hinterfragen, ob die zu Weilen postulierte Überlegenheit des H. sapiens (wenn vorhanden) sich tatsächlich in reproduktive Überlegenheit übersetzt hätte. Eine kognitive Überlegenheit, zum Beispiel, muss nicht zwangsläufig dazu führen, dass die kognitiv Unterlegenen sich weniger erfolgreich fortpflanzen. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass in vielen H. sapiensKulturen intelligente, bzw. gebildete Menschen zuweilen bewusst auf Fortpflanzung verzichten. Man denke hierbei nur an das Mönchtum oder aber auch an kinderlose Philosophen und Wissenschaftler, die die Zeit, die sie durch Verzicht auf Kinder gewonnen hatten, in ihr philosophisches oder wissenschaftliches Werk investieren konnten. Natürlich kann man von diesen Beispielen aus modernen entwickelten Gesellschaften nicht auf die Verhältnisse in Jäger-und Sammler-Gesellschaften schließen. Aber es sei daran erinnert, dass der Neandertaler ein größeres Gehin hatte als der Homo sapiens. Wenn man nach Gründen dafür sucht, die zum Aussterben der Neandertaler geführt haben, tendiert man dazu nach Eigenschaften des Neandertalers zu suchen, die diesen gegenüber dem Homo sapiens unterlegen erscheinen lassen. Dieses Vorgehen ist aber nicht zwangsläufig richtig. Die einzige aus Eigenschaften abgeleitete Unterlegenheit, die uns interessieren sollte, ist die reproduktive Unterlegenheit, also die Frage, warum die Neandertalerpopulationen von Generation zu Generation kleiner wurden, wärend die des Homo sapiens wuchsen.
1. Homo sapiens verdrängte Homo neanderthalensis gewaltsam (Völkermord, Art-Mord)
Die Geschichte des Homo sapiens ist voll mit Beispielen von Eroberungs- und Unterwerfungskriegen. Auch die modernen Imperien beruhen auf militärischer Macht. Die Idee, dass unsere Vorfahren die Neandertaler schlichtweg gewaltsam massakrierten und verdrängten, ist also nicht allzuweit hergeholt. Wenn H. sapienssich unter anderem von großen zu jagenden Tieren ernährte, waren unsere Vorfahren gewalterfahren und hatten wenig Hemmung zu töten. Wenn die Neandertaler sich hingegen hauptsächlich von Pflanzen und Insekten ernährten, wie einige Paläontologen für die Neandertaler, die im heutigen Spanien lebten postulieren (29), war Gewalt wesentlich weniger selbstverständlich. Demnach wären die Neandertaler einfach zu friedlich für die Konfrontation mit unserer aggresiven, mordenden Spezies gewesen und entsprechend massakriert und gewaltsam ausgerottet worden.
2. Vulkanausbrüche
Der Campi Flegrei Supervulkan in der Nähe der heutigen Stadt Neapel brach vor 39.000 Jahren aus und führte zu monatelanger Sonnenabdeckung durch Vulkanasche in Süosteuropa, der Levante, dem Mittleren Osten und Mittelasien, also in den Gebieten, in denen Neandertaler lebten. Homo sapiens hingegen hatte weiterhin eine solide Populationsbasis in Afrika und konnte die bei diesem Supervulkanausbruch ums Leben gekommenen Populationen ersetzen. Möglichwerweise gelang das den Neandertalern nicht mehr. Die jüngsten Neandertalerfunde stammen aus Gibraltar, also aus dem extremen Südwesten Europas, der von der Aschewolke weitgehend verschont geblieben war. Vielleicht lebten hier die letzten überlebenden Neandertalerpopulationen, die dann durch den modernen Homo sapiens demographisch verdrängt wurden oder sich mit den Homo sapiens Populationen vermischten und in ihnen aufgingen (es wird geschätzt, dass etwa 2-4% des Erbguts nicht-afrikanischer Völker aus Neandertalersequenzen besteht) (17).
3. Homo sapiens domestizierte Tiere und kooperierte bei der Jagd mit Wölfen
Funde aus Belgien zeigten, dass die nördlichen Neandertaler, im Gegensatz zu denen aus dem heutigen Spanien, stark auf das Fleisch von großen Tieren wie Mufflons und Wollnashörnern angewiesen zu sein schienen (29). Wenn vor 40.000 Jahren drei Top-Predatoren in Europa jagten, nämlich Homo sapiens, Homo neanderthalensis und Wölfe, dann würde ein kooperativer Jagdstil von zwei dieser Top-Predatoren, den dritten in ernsthafte Bedrängnis beim Konkurrenzkampf um Jagdtiere bringen. Dass wir enge Beziehungen zu Wölfen pflegten, sehen wir daran, dass wir auch heute noch Hunde, die aus den Wölfen hervorgegangen sind, als Haustiere halten. Der Beginn der Domestizierung des Wolfes (und seine Transformation in zahlreiche Hunderassen) wurde auf die Zeit vor etwa 40.000 Jahren geschätzt, also die Zeit, als der Neandertaler allmählich verschwand (30). Heutige Spürhunde erinnern uns daran, dass Wölfe auch beim Auffinden und verfolgen von Jagdtieren geholfen haben könnten. Die Wölfe könnten größere Jagdtiere als Rudel eingekreist und den Menschen zugetrieben haben, die sie dann erlegten. Eine Kooperation mit den Wölfen wäre auch zur Abwehr anderer Aasfresser von Vorteil, da die Wölfe, denen die Menschen immer wieder Fleischbrocken zukommen lassen, andere Nahrungskonkurrenten vertreiben würden (31).
4. Homo sapiens könnten bessere Jäger gewesen sein
Das Aussterben der Neandertaler korelliert zeitlich mit der Ankunft des Homo sapiens in dessen eurasischen Siedlungsgebieten. Möglicherweise entstand eine direkte Konkurrenz zwischen H. sapiens und H. neanderthalensis, wobei der H. sapiens sich durchsetzte, weil er über die besseren Jagdtechniken verfügte und dadurch mehr Menschen besser ernähren konnte.
5. Homo sapiens könnte durch Arbeitsteilung zwischen Geschlechtern und Altersgruppen besser organisierte Übelebensgruppen gebildet haben als die Neandertaler
Neandertaler jagten wahrscheinlich in Familiengruppen, wobei alle Familienmitglieder, inklusive Frauen und Kinder, an der Jagd mitwirkten. Beim H. sapiens entwickelte sich wohl eine stärkere Arbeitsaufteilung abhängig von Alter und Geschlecht, die es dem Einzelnen erlaubte, gemäß eigener Fähigkeiten und unter Berücksichtigung von Beschränkungen und Schwächen Aufgaben zu übernehmen. Auch konnten durch Arbeitsteilung effektivere Prozesse entstehen. Wenn z.B. junge starke Männer ein großes Tier jagten und erlegten, wurden im Lager von Frauen oder auch älteren Mitgliedern der Gemeinschaft Vorbereitungen getroffen, das Tier weiterzuverarbeiten. Die Erhitzung von Fleisch ermöglichte unseren Körpern, dieses gut zu verwerten, was möglicherweise auch der Hirnentwicklung zu gute kam. Dies setzte die Beherrschung des Feuers voraus, die in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft wesentlich besser zu bewerkstelligen sein dürfte. Allerdings könnten auch die Neandertaler ausgeprägte Arbeitsteilungs- und Sozialorganisationsstrukturen gehabt haben (32).
6. Neandertaler könnten geringere kognitive Fähigkeiten gehabt haben
Neandertaler hatten ein größeres Schädelinnenvolumen als der Homo sapiens. Möglicherweise waren Neandertaler dem Homo sapiens sogar kognitiv überlegen. Vielleicht war das Neandertalergehirn aber auch durch grundlegend andersartigen Aufbau dem des H. sapiens unterlegen, zumindest was kognitive Fähigkeiten angeht, die sich in Überlebens- und Reproduktionsvorteile übersetzten. Im Vergleich zum sehr steilen Frontalhirnschädel des H. sapiens ist der Frontalschädel des H. neanderthalensis eher abgeflacht. Der Frontallappen ist der Hirnbereich, wo Entscheidungsfindung, Sozialverhalten, Kreativität und abstraktes Denken abgebildet sind. Möglicherweise waren damit ein besseres Lehr- und Lernvermögen und ein stärkerer sozialer Zusammenhalt des H. sapiens verbunden, wodurch sich Techniken besser verbreiten konnten und Einsichten nicht von jedem Individuum gemacht werden mussten, sondern sich in der Gruppe verbreiten konnten.
7. Homo sapiens könnte durch kollektiven Glauben an nicht-gegenständliche Entitäten bei der Verfolgung gemeinsamer Ziele überlegen gewesen sein
Unmittelbar nach der Entdeckung der Neandertalerfossilien im Jahr 1856 galt es als geradezu selbstverständlich, dass die Fossilien von einem primitiven „Urmenschen“ stammten, dem der Homo sapienskognitiv und kulturell haushoch überlegen gewesen sein musste. Inzwischen wird diese Überlegenheit des H. sapiens breit angezweifelt. Im derzeitigen Diskurs wird die kulturelle Überlegenheit als unabhängig von kognitiven Fertigkeiten gesehen. Demnach könnten H. sapiens Gruppen einen höheren Grad kultureller Organisation gehabt haben (33). Selbst wenn der individuelle Neandertaler kognitiv überlegen gewesen sein sollte (größeres Hirnvolumen), könnte die mit Kultur einhergehende Tendenz, an nicht-gegenständliche Entitäten und Institutionen zu glauben (Religion, „Geist der Gruppe“, übernatürlicher Auftrag) der entscheidende Faktor im Konkurrenz- und Verdrängungswettbewerb zwischen H. sapiens und H. neanderthalensis gewesen sein (34). Durch gemeinsame Kultur können gemeinsame Ziele verfolgt werden und Gegenstände innerhalb der durch Kultur zusammengehaltenen Gruppe geteilt werden, ohne dass die Gruppenmitglieder zu einer Familie gehören oder sich wenigstens persönlich kennen mussten. Vielleicht waren unsere H. sapiens Vorfahren schlichtweg leichter empfänglich für Propaganda und Feindbildaufbau und somit miltärisch leichter mobilisierbar.
8. Die Neandertaler könnten gewissenhafter und mit einer stärkeren Tötungshemmung ausgestattet gewesen sein
Das die Neandertaler das größere Gehirn hat, steht außer Frage. Ob H. neanderthalensis oder H. sapiensbessere kognitive Fähigkeiten hatte, können wir nicht ermessen (zumal wir dann erst mal definieren müssten, was wir unter besseren kognitiven Fähigkeiten verstehen). Viele höherentwickelte Säugetiere, darunter auch die Menschen, haben eine ausgeprägte Tötungshemmung gegenüber Artgenossen. Diese Tötungshemmung kann sehr wohl durch hohe kognitive Fähigkeiten untermauert sein – einem stark ausgeprägten Gewissen, beispielsweise. Allerdings sehen wir gerade beim Menschen, wie oft diese Tötungshemmung versagt (Affekt) oder noch wesentlich öfter gezielt ausgehebelt wird (Kriegspropaganda, Waffen, z.B. Distanzwaffen, die die Hemmschwelle herabsetzen). Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen können sich solche Hemmungen als nachteilig erweisen, so dass sich die enthemmtere und gewissenlosere Konfliktpartei durchsetzt. In diesem Fall wäre das der enthemmte Homo sapiens gegenüber dem gewissenhafteren Neandertaler gewesen.
9. Wetter und Klimaveränderungen in den Lebensräumen der Neanderthaler
Als der Homo sapiens aus Afrika auswanderte, besiedelte er zunächst die arabische Halbinsel (vor etwa 100.000 Jahren), dann Zentralasien (vor etwa 70.000 Jahren) und schließlich Australien (vor etwa 60.000 Jahren). Demnach besiedelte Homo sapiens das ferne Australien noch vor Europa, wo er erst vor etwa 40.000 Jahren auftauchte. Möglicherweise konnte Homo sapiens erst mit dem allmählichen Verschwinden der Neandertaler deren Lebensraum besetzen. Damit bleibt jedoch die Frage, warum die Neandertaler ausstarben, bestehen. Ein Erklärungsansatz macht drastische Wetter- und Klimaveränderungen hierfür verantwortlich. Wenn z.B. kalte Waldhabitate durch wärmere, offenere Savannen ersetzt wurden mag dies den Homo sapiens gegenüber dem Neandertaler begünstig haben. Homo sapiens hatte sich aber gerade im offenen Grasland Afirkas entwickelt und wurde möglichwerweise durch die sich in Europa abspielende Veränderung der Landschaft und des Klimas nach Europa gelockt.
10. Neandertaler könnten Seuchen zum Opfer gefallen sein
Möglichwerweise brachte Homo sapiens Krankheitserreger mit sich, die aufgrund der evolutionären Verwandschaft des Neandertalers auch im Neandertalerorganismus sehr gut gediehen. Da das Immunsystem der Neandertaler jedoch zuvor mit diesen Erregern keinerlei Kontakt hatte, wirkten sich diese fatal auf die Neandertaler aus, die massenhaft an einem für H. sapiens harmlosen Erreger zu grunde gingen (35). Die Erklärung wirkt plausibel, auch angesichst der Tatsache, dass es ähnliche Beispiele für eine fatale Seuchenanfälligkeit von Menschen gibt, wenn diese zum ersten Mal in Kontakt mit anderen Völkern kommen, die auch neue Erreger mitbringen. Wir müssen heute davon ausgehen, dass die Europäer, die im 16. und 17. Jahrhundert nach Amerika kamen, Infektionskrankheiten mitbrachten, die für die indigenen Völker Amerikas vollkommen neu waren, sodass diese keinerlei Immunität gegen diese Seuchen hatten (36). Wahrscheinlich ist das Massensterben unter den Ureinwohnern Amerikas, von denen geschätzt nur 5% überlebten, während ganze Völker vollkomen ausstarben (37), auf Seuchen zurückzuführen. Ähnlich könnte es den Neandertaler Menschen ergangen sein.
11. Inzucht war bei Neandertalern normal und beeinträchtigte die Fertilität
Möglicherweise hatten die Neandertaler aufgrund zu starker Inzucht zu wenig gesunden Nachwuchs, der ins fortpflanzungsfähige Alter kam und sich selbst wiederum fortpflanzte. Der Mensch hat 46 Chromosomen, 23 von seiner Mutter und 23 vom Vater (wobei durch „Crossing-Over“ auch Anteile zwischen mütterlichen und väterlichen Chromosomen ausgetauscht werden, die Chromosomen des Individuums also einen eigenen Charakter aufweisen und nicht identisch mit denen der Eltern sind). Die Unterschiedlichkeit zwischen mütterlichen und väterlichen Chromosomen lässt sich also untersuchen und wird in der Populationsgenetik als „Heterozigosität“ bezeichnet und als Verhältnis der beobachteten zu der erwarteten Unterschiedshäufigkeit quantifiziert. Wenn man die maternalen mit den paternalen Chromosomen vergleicht, findet man bei modernen Homo sapiens deutlich mehr Unterschiede als bei den Neandertalern, wo manchmal ganze Chromosomenabschnitte auf dem mütterlichen nahezu identisch mit den korrespondierenden Abschnitten auf dem väterlichen Chromosom sind. Derartige Übereinstimmungen der elterlichen Chromosomen sind ein Maß für den Verwandschaftsgrad der Eltern. In den aus einem Zehenknochen gewonnenen Sequenzen einer Neandertaler Frau aus den Altai Bergen wurden Ähnlichkeitsgrade gefunden, die sehr nahe Verwandschaftsgrade der Eltern signalisierten. Demnach wären die Eltern in einer der folgenden Konstellationen verwandt gewesen: Halbgeschwister, Onkel-Nichte, Großvater-Enkeltochter oder doppelt Cousin-Cousine ersten Grades (38). Der Übereinstimmungsgrad der maternalen und paternalen Chromosomen legt nahe, dass Nachwuchszeugung durch Verwandschaftsbeziehungen auch in den Vorfahren-Generationen der sequenzierten Neandertalerfrau häufig war, es sich also nicht um einen außergewöhnlichen Zufall gehandelt haben dürfte, dass diese Neandertalerfrau eng verwandte Eltern hatte.
12. Neandertaler assimilierten sich mit dem H. sapiens
Vielleicht sind die Neandertaler ja gar nicht ausgestorben, sondern durch permanente Fortpflanzung mit Homo sapiens Partnern im modernen Menschen Eurasiens aufgegangen. Tatsächlich finden sich im Genom von Eurasiern Neandertaleranteile im niedrigen einstelligen Prozentbereich (1-4%). Demnach muss also die H. sapiens Bevölkerung wesentlich größer gewesen sein als die der Neandertaler oder einfach wesentlich promiskuitiver und reproduktiv erfolgreicher. Vielleicht hatten Neandertaler aufgrund der harten Winter ein Sexualverhalten entwickelt, welches dafür sorgte, dass der Nachwuchs nur in den warmen Sommermonaten zu Welt kam. In den ganzjährig warmen Gebieten in Äquatornähe, in denen der Homo sapiens sich entwickelt hatte, wäre eine derartige Einschränkung nicht notwendig gewesen. Die kleineren Neandertalerpopulationen wären demnach durch den modernen Homo sapiens demographisch verdrängt worden, haben sich in geringem Maße mit den Homo sapiens Populationen vermischt und sind in ihnen aufgegangen.
Denisova-Menschen
Im Jahr 2008 wurden in der Denisova Höhle im Altai Gebirge ein Kleinfingerknöchelchen und später noch 2 Backenzähne gefunden. Die aus dem Kleinfingerknöchelchen gewonnene DNS wurde sequenziert und deutete auf eine neue Art der Gattung Homo hin, die verwandt mit den Neandertalern und auch mit Homo sapiens war und vor etwa 41.000 Jahren, also zeitgleich mit den letzten Neandertalern und den heute noch lebenden Homo sapiens existierte. Denisova-Menschen und Neandertaler hatten gemeinsamen Vorfahren vor etwa 640.000 Jahren und gemeinsame Vorfahren mit H. sapiens vor etwa 800.000 Jahren. Möglicherweise war H. heidelbergensis ein gemeinsamer Vorfahre. Interessanterweise findet sich das EPAS1 Gen, welches Tibetern das Leben in sauerstoffärmeren Höhen erleichtert, bei keinen anderen derzeit lebenden H. sapiensVölkern der Erde und auch nicht in der DNS des Neandertalers, jedoch tatsächlich in der DNS des Denisova Menschen. Wie die Denisova Menschen ausgesehen haben, ob sie größer oder kleiner als der Homo sapienswaren, wie groß deren Schädelvolumen war und wie ihre Gesamtanatomie war, lässt sich natürlich mit den bisherigen Funden, die aus einem sehr kleinen Knochenfragment und 2 Zähnen bestehen, nicht abschätzen. Somit ist der Denisova-Mensch die erste Urmenschenart, bei der wir detaillierte Erbgutinformationen haben, bevor weiterführende Schlüsse basierend auf der Morphologie gefundener Fossilien gezogen werden können. Weitere potentielle Denisova-Mensch Fossilienfunde werden gerade untersucht, darunter ein Unterkiefer aus dem Hochland von Tibet (39).