17. Transhumanismus - der Status Quo im Jahr 2020
Ursprünglich sollte die Überschrift dieses Kapitels „Transhumanismus – der Status Quo im 21. Jahrhundert“ lauten, aber da dies hier eher eine Querschnittsbetrachtung zum jetzigen Zeitpunkt darstellt und ich mich auch nicht in der Lage sehe, die Zukunft der kommenden 80 Jahre vorherzusagen, habe ich mich für das Jahr 2020 entschieden. In diesem Jahr kommt es durch die Covid-19 Restriktionen zu einer Beschleunigung im Wandel der Kommunikationskultur: Immer größere Teile dienstlich-beruflicher Kommunikationsvorgänge, aber auch Austausch im Rahmen von Lehrveranstaltungen, erfolgen über digitale Medien. Während totaler Lockdowns sind Besprechungen ohne Zwischenschaltung digitaler Medien überhaupt nicht möglich, wenn man nicht riskieren will, Opfer polizeilicher Übergriffe wegen Vergehen gegen die Verwaltungsanordnungen zu werden.
Die Apologeten des Transhumanismus betonen gegenüber der Öffentlichkeit, dass die Hauptmotivation von Verschmelzungen der menschlichen Welt mit der Welt der Maschinen darin liege, das Leben zu verbessern und Krankheit und Siechtum zu bekämpfen. Als Beispiele werden dann technische Errungenschaften der Prothetik und technische Hilfen zur Überwindung von Krankheiten und Behinderungen, z.B. Exoskelette zur Mobilisierung von Muskelschwachen oder Hör- oder Sehhilfen, genannt. Die Sinnhaftigkeit dieser Prothesen steht außer Frage, jedoch sollten sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass Schnittstellen zwischen Menschen und Maschinen auch Missbrauchspotential bergen.
Durch Whistleblower wie Edward Snowden, Chelsea Manning und Julian Assange wissen wir bereits, wie stark die staatlichen Überwachungs-, Datensammel- und Kontrollmechanismen vor Covid-19 etabliert waren. Hierbei ist nicht von einer Überwachung im Sinne von „alles wird mitgehört“ auszugehen. Vielmehr können Kommunikationen im Prinzip einfach aufgezeichnet und abgespeichert werden. Wenn dann irgendwo auf der Welt ein Mensch durch Rufmord ausgeschaltet werden soll, müssen die Aufzeichnungen nur nach kompromittierenden Inhalten durchsucht werden, die dann durch gezieltes Framing für Angriffe auf die Person instrumentalisiert werden können. Ein Beispiel der näheren Vergangenheit war die Ausschaltung des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff (132). Vor Gericht wurde er im Nachhinein von sämtlichen Korruptionsvorwürfen freigesprochen, jedoch war er zu diesem Zeitpunkt bereits aus seinem Amt vertrieben worden. Wulff war vorgworfen worden, dass er sich als Ministerpräsident von Niedersachsen von einem Filmproduzenten zu einem Oktoberfestbesuch mit Hotel und Bewirtung einladen ließ und sich danach bei Siemens für eine Unterstützung dessen Filmprojekts eingesetzt hatte. Zudem hatte er einen Privatkredit für seine Eigenheimfinanzierung zu günstigen Konditionen angenommen. Besonders unter Druck geriet Wulf schließlich, nachdem er unüberlegte Worte auf der Mailbox des Chefs der „Bild“ Zeitung hinterlassen hatte. Wulf war durch sein hohes Amt besonders exponiert. In Zukunft könnte aber jeder Mensch exponiert sein, da einfach durch die unglaubliche Masse an gespeicherten Daten bei jedem instrumentalisierbare Aussagen zu finden sein werden. Aufgrund der Wandlungen des Zeitgeistes kann auch keiner mehr sicher sein, dass Handlungen und Verhaltensweisen, die heute als vollkommen normal gelten, nicht später kriminalisiert oder zumindest sozial geächtet werden können. „Social Credit“ Systeme können unterwürfig-regelkonformes Verhalten aller Menschen in einer Gesellschaft in Echtzeit anstoßen. (Der englische Begriff „Nudging“ steht dafür, bestimmte Verhaltensweisen durch sanften Zwang zu induzieren). Rohe Gewalt mit körperlicher Folter und Ermordung von Systemgegnern oder Kritikern, wie in Orwells‘ 1984 beschrieben, halte ich für eher unwahrscheinlich. Wahrscheinlich werden eher Sanktionen benutzt, die die Freiheit und vor Allem die soziale Stellung angreifen. In einer Welt, in der elektronische Zahlungssysteme sich immer mehr verbreiten und möglicherweise in Kürze nicht-elektronische Zahlungssysteme (z.B. Bargeld) gänzlich verdrängen werden, kann der Leviathan die Geschäftsfähigkeit seiner Untertanan problemlos graduell bis vollumfänglich einschränken. Der Prozess der Einschränkungen kannn hierbei hochstandardisiert und regelkonform erfolgen, z.B. durch automatische Kopplung des Sanktions- und Belohnungssystems an den „Social Credit Score“. Somit muss kein Mensch im Machtapparat mehr persönlich strafend tätig wirken, da die Strafe automatisch durch das System verhängt wird. Es muss sich also niemand mehr die „Finger schmutzig machen“. Es erfolgen Sanktionstaten ohne Täter.
Im Beruf kannn ich mich Telekonferenzen nicht entziehen, wenn ich nicht ganz ins Abseits geraten möchte und selbst der Totalverzicht auf ein Mobiltelephon könnte im Berufsleben auf Dauer Nachteile bringen. Aber immerhin kannn ich mein Mobiltelefon noch abschalten und im Prinzip kann ich auch ohne Mobiltelefon leben und mich frei bewegen. Auch bin ich im Moment noch ohne Mobiltelefon oder irgendein technisches Gerät gesellschafts- und geschäftsfähig (wenn auch schon etwas eingeschränkt). Physisch sind also Mensch- und Maschinenwelt noch getrennt. Der Informationsausstausch zwischen Mensch und Maschine (oder zwischen Menschen mit zwischengeschalteter Maschine) erfolgt über geschriebene Wörter, akustische Signale und optische Reize. Die Schnittstelle läßt sich also (noch) jederzeit kappen oder unterbrechen. Aber schon durch die immer zahlreicher werdenden, momentan immerhin noch physisch getrennten Schnittstellen zwischen Menschen und Technik, erscheint der Weg in eine Überwachungsgesellschaft kaum noch zu vermeiden.
Inzwischen gibt es Tech-Propheten, die uns den Mikrochip unter der Haut schmackhaft machen wollen. Hiermit wäre eine Dauerschnittstelle zur Anbindung an die Maschinenwelt geschaffen. Der Entzug des Menschen aus der Maschinenwelt kann dann prinzipiell unmöglich gemacht werden. Die meisten Menschen werden wahrscheinlich die Einpflanzung eines solchen Chips zunächst ablehnen und ich gehe nicht davon aus, dass auf großer Fläche Zwang angewendet werden wird, gehe aber auch davon aus, dass dies gar nicht notwendig ist.
Wenn man die Schnelligkeit der Fortschritte in Nano- und Computertechnologie betrachtet, ist davon auszugehen, dass die Verquickung der Menschen- und Maschinenwelt allmählich und geradezu unbemerkt erfolgt. Möglicherweise sogar aus Versehen, z.B. wenn Moleküle wie Scannercodes detektiert werden können. Denken wir uns einen hypothetischen Stoff, der in alle Menschen gelangt und sich in jedem Menschen zu einer für das Individuum einzigartigen Molekülstruktur verbindet. Dann müsste nur noch eine Detektionstechnologie für jenen Stoff gefunden werden und schon können sich die Maschinen in jeden Menschen auf der Welt „einhacken“. Weniger elegant aber leichter steuerbar wäre die Beimischung von Nanorobotern in ubiqitäre Stoffe, die von jedem Menschen auf der Welt aufgenommen werden (z.B. in Nahrung, Wasser oder Luft).
Im Jahr 2020 wurden elektronische Impfpässe zum Gegenstand öffentlicher Debatten und Methoden zur bio-digitalen Markierung eines Impfstatus scheinen auch erwogen zu werden. Wenn man mit einem Impfstoff ein digital lesbares Markermolekül beimengen könnte, liesen sich Individuen, die den Impfstoff bekommen haben von denen unterscheiden, die ihn nicht bekommen haben. Entsprechend könnte man z.B. zur Seuchenbekämpfung die Reisefreiheit auf Menschen mit bio-digitalem Impfnachweis beschränken. Die „Digital Identity Alliance“ hat sich die Schaffung digitaler Identitäten als Ziel gesetzt (https://id2020.org). Gemäß der Internetpräsenz der Initiative soll die Digitale ID vor allem für mehr Gerechtigkeit sorgen und insbesondere arme Menschen ohne Pass oder Kreditkarte schützen und ihnen Geschäftsfähigkeit sichern. Die digitale ID soll also allen Menschen dieser Welt die Möglichkeit zur politischen, sozialen und wirtschaftlichen Teilhabe sichern. Die Initiative erklärt die „Fähigkeit, beweisen zu können, wer Du bist zu einem fundamentalen, universellen Menschenrecht“. Inwiefern eine globales Digitalidentitätensystem auch Nachteile haben könnte, überlasse ich den Überlegungen des Lesers.
Die Verdrängung realer sozialer Räume (durch virtuelle)
New York entwickelte sich während der Covid-19 Pandemie zu einem Hotspot hinsichtlich sowohl der Fallzahlen als auch der Medienberichterstattung. Gouverneur Andrew Cuomo profilierte sich als zupackender, strenger Krisenmanager, der nicht zögerlich war, drastische Freiheitsbeschränkung für die Gesundheitssicherheit zu verordnen. In der abklingenden Epidemie konferierte Cuomo mit Silicon Valley-Größen, um Chancen, die diese Krise birgt, wahrzunehmen. So hat Cuomo eine Expertenkommission für die Neukonzeption des Staates New York für die „Nach-Corona-Zeit“ einberufen, die unter Leitung des ehemaligen Google-Geschäftsführers Eric Schmidt steht. Schmidt hat schon klare Ankündigungen, wohin die Reise gehen soll, verlautbaren lassen (133, 134):
„Oberste Priorität bei dem, was wir tun wollen, haben Telemedizin, Onlineunterricht und Breitband.“
Schmidt sieht sich hinsichtlich seiner Zukunftsvisionen im Einklang mit anderen Silicon Valley-Größen, vor allem mit Bill Gates, den er als Visionär sieht, mit dessen Hilfe und dessen Produkten ein „eleganteres Bildungssystem“ möglich werde.
„… all diese Gebäude, alle diese materiellen Klassenräume – warum das, bei all der Technologie, die uns zur Verfügung steht?“
Sicherlich bieten moderne Kommunikationstechnologien viele Möglichkeiten im Bildungsbereich. Diese sollen hier gar nicht in Frage gestellt werden. Allerdings bedrohen Schmidts Visionen die meisten realen sozialen Interaktionsräume, die z.B. Bildungseinrichtungen darstellen. Wenn sämtliche zwischenmenschlichen Interaktionen über Computer erfolgen, müsste man jedem Menschen nur noch eine Wabe (Wohnung) zuweisen, die nur noch selten verlassen wird, im Bedrohungsfall (z.B. bei einer so deklarierten Pandemie) auch nur noch nach Einholen einer digitalen Genehmigung und unter Mitnahmepflicht einer digitalen Kennung (z.B. eines Smartphons). Das Zuhause würde nicht mehr der ausschließliche Rückzugsort sein, sondern über das Internet auch Schule, Arztpraxis, Sportstudio und in bestimmten Fällen (z.B. im Pandemiefall) Schutzort oder auch Gefängnis, z.B. wenn ein automatisches Social Credit System freiheitseinschränkende Sanktionen verhängt (133). Die Versorgung (Fütterung) könnte durch Lieferdienste sichergestellt werden und Bezahlsysteme würden nach Abschaffung des Bargelds auf dem Austausch von Daten beruhen.
Die digitale Schock-Strategie der Silicon Valley Milliardäre dürfte auch starke Unterstützer im amerikanischen Politapparat finden, da sie als entscheidend im strategischen Wettbewerb mit der Konkurrenzmacht China gilt. Nach einem von Schmidt verfassten Gutachten für die „National Security Commission on Artificial Intelligence (NSCAI)“, führe die Überwachungskultur Chinas zu einem strategischen Vorteil gegenüber den USA in allen digitalen Schlüsseltechnologien und Bereichen wie z.B. der künstlichen Intelligenz in der Medizin, beim autonomen Fahren, bei smarten Städten und beim bargeldlosen Handel. China habe 3,5-mal mehr Menschen und somit Konsumenten als die USA, von denen im Gegensatz zu den US-Bürgern viele, aus der Armut kommend, erst neu als Konsumenten etabliert werden und somit direkt „digital“ angebunden werden können, sei es bei Lieferdiensten oder digitaler Bezahlung. Aufgrund des Mangels an Ärzten in China besteht für viele Chinesen auch ein großer Bedarf hinsichtlich der Inanspruchnahme digitaler medizinischer Leistungen. Besonders hebt Schmidts NSCAI Gutachten die wirkmächtigen öffentlich-privaten Partnerschaften bei der Massenüberwachung und Datenerhebung als Wettbewerbsvorteil hervor.
Die öffentlich-privaten Partnerschaften sind aber keineswegs ein chinesisches Phänomen. Gerade in den USA besteht eine lange Tradition darin, strategisch relevante Technologien staatlich zu fördern und die entstandenen Produkte zur Gewinnabschöpfung in private Hände zu übergeben (135). Alle modernen computertechnologischen Entwicklungen, aus denen die großen internationalen Firmen des Silicon Valley hervorgegangen sind, wurden (und werden) durch staatliche Gelder, oft aus den in den USA besonders üppigen Pentagon-Budgets, gefördert bzw. profitierten von staatlich geförderter Forschung z.B. an Universitäten. Erzählungen über geniale Innovationen in Hinterhofgaragen durch weltfremde Nerds taugen für moderne Legenden, jedoch nicht zur Erfassung dessen, was wirklich die Digitalisierung vorantreibt. Das sind in erster Linie Geld und Macht. Durch das Heraufbeschwören der „Gelben Gefahr“ kann Schmidt die Geldschleusen der amerikanischen Regierung öffnen.
Die technologischen Innovationen, welche die transhumanistischen Verschmelzungsprozesse zwischen Mensch und Maschine vorantreiben, sind also auch die Schlüsseltechnologien, um die sich lokal und global Macht und Kontrolle sowie wirtschaftlicher Erfolg und Reichtum entwickeln. Demgegenüber erscheinen Werte wie gesellschaftliche und individuelle Freiheit und Demokratie wie David gegen Goliath. Nach der neolithischen Revolution setzte sich der Fortschritt (fortschrittlichere sesshafte Bauerngesellschaften) gegenüber der Freiheit (freiere und egalitäre Jäger-und-Sammlergesellschaften) durch.