10. Von der Evolutionstheorie zur Eugenik

Survival of the fittest wurde insbesondere unter überzeugten Eugenikern als „Überleben des Stärkeren“ interpretiert bzw. in nicht-englische Sprachen übersetzt. Worauf sich hier die Stärke bezieht, ob auf körperliche Kraft oder besondere kognitive Fähigkeiten, ist hierbei nicht entscheidend. Viel wichtiger ist es, dass der „Überleben des Stärkeren“-Interpretation zu Grunde liegende Missverständnis zu entlarven. Nicht der Stärkere setzt sich in der Evolution durch, sondern der an die Erfordernisse der Fortpflanzung am besten Angepasste. Folgende Faktoren sind für den Fortbestand der Linie eines Individuums einer sich sexuell fortpflanzenden Art entscheidend:

  • Die Überlebenszeit muss lang genug sein, um ins fortpflanzungsfähige Alter zu gelangen
  • Das Individuum muss die Gelegenheit zur Kopulation bekommen (Partnerfindung)
  • Die Kopulation muss zu erfolgreichen Schwangerschaften mit Geburt lebender und fruchtbarer Nachkommen führen
  • Die Nachkommen (mindestens ein Nachkomme) müssen diesselben Hürden überwinden und Nachkommen zeugen, die selbst wieder diesselben Hürden bis zu eigenen, dann wieder ebenso reproduktiv erfolgreichen Nachkommen überwinden müssen.

 

Jedes Individuum einer sich sexuell fortpflanzenden Art hat somit Vorfahren, die evolutionär betrachtet hinsichtlich der Fortpflanzung zu 100% erfolgreich waren. Für den Menschen bedeutet dies, dass evolutionärer Erfolg von dem, was gemeinhin als Erfolg im Leben bezeichnet wird weit entfernt sein kann. In Europa leben heute viele Menschen, die als sehr gut ausgebildet und (beruflich) „erfolgreich“ gelten. Evolutionär betrachtet bewegen sich viele dieser Menschen (inklusive des Autors dieses Buches) in eine nachkommenlose Sackgasse. Mit meinem Ableben wird also eine Abstammungslinie zu Ende gehen, die vorher sehr erfolgreich war, da ich nur der Tatsache, dass alle meine genetischen Vorfahren Fortpflanzungserfolg hatten, meine Existenz verdanke. Tröstlich für mich ist das Wissen, dass ich mich genetisch ohnehin nicht über die Generationen erhalten kann, dazu müßte ich mich klonal fortpflanzen. Da der Homo sapiens sich aber sexuell fortpflanzt, hätten (unter Annahme von nichtverwandschaftlicher Paarung) meine Kinder noch 50% meines Genoms, meine Enkelkinder 25% und meine Urenkelkinder 12,5%. In der vierten Nachkommensgeneration wären noch 6,25 % meines Genoms erhalten und schon in der siebten Generation wären weniger als 1% meines Genoms übrig. Dennoch spielen Stammbäume eine große Rolle bei der Organisation von Macht in menschlichen Gesellschaften. Dies ist offensichtlich in Monarchien, aber auch in modernen (so genannten) Demokratien spielen Familie und Abstammung eine nicht zu vernachlässigende Rolle hinter den Kulissen.

 

Die im 20. Jahrhundert weltweit unter Wissenschaftlern verbreiteten Ideen zur Eugenik versuchten die Erkenntnisse der Evolutionstheorie praktisch umzusetzen, um die Menschen durch Züchtung zu „verbessern“. Hierbei sollte der Anteil „guter“ Erbanlagen in der Population von Generation zu Generation erhöht werden (positive Eugenik) und der Anteil „schlechter“ Erbanlagen in der Population von Generation zu Generation veringert werden (negative Eugenik).

 

Bei der Definition von „guten“ und „schlechten“ Erbanlagen besteht natürlich sehr viel ideologischer Spielraum. Die Verbrechen der Nationalsozialisten haben die Gefährlichkeit der ideologiegetriebenen Durchsetzung eugenischer Ideen aufgezeigt. Selbst die wissenschaftliche Debatte über die menschliche Evolutionstheorie ist hierdurch in Deutschland und auch weltweit belastet und mit vielen Tabus belegt. Umso wichtiger erscheint es mir, hier im Folgenden die Ideen einiger Vertreter der Evolutionstheorie und der Eugenikbewegungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts möglichst wertungsfrei darzulegen. Die Verbrechen Verbrechen der Nationalsozialisten den Evolutionsbiologen wie Darwin oder Wallace anzulasten, erscheint mir eine unangemessene Vermischung zwischen neutral-nüchterner Wissenschaft und fanatisch unmoralischer Ideologie. Angesichts dessen, dass Eugenik durch die absehbaren gentechnischen Möglichkeiten von selbst wieder zum Thema wird, erscheint es mir jedoch angemessen, die zum Thema bereits gefassten Gedanken aufzugreifen. Durch die uns heute bekannten Folgen der ersten Eugenikbewegung haben wir vielleicht den Wissensvorteil, diese Gedanken auch ob ihrer innewohnenden Gefahren besser einzuordnen, als es noch vor hundert Jahren der Fall war.

Alexander von Humboldt (1769-1859) – der Naturgeograph

Alexander von Humboldt ist berühmt für seine Entdeckungsreisen durch Süd- und Mittelamerika. Eine weltverändernde Theorie, die nach ihm benannt wurde, wie Darwins Evolutionstheorie hat er zwar nicht hinterlassen, dafür hat er nicht nur duch die Fülle seiner Messungen und Aufzeichnungen, sondern besonders durch seinen Methoden, mit denen er Messungen und Aufzeichnungen durchführte und in größere Zusammenhänge setzte, Maßstäbe gesetzt. Die Art, wie Darwin seine Aufzeichnungen führte, ähnelte sehr stark dem Humboldt’schen Stil und Darwin selbst betonte, wie wichtig und inspirierend Humboldts Werke für Ihn waren (84). Der Begriff „Evolution“ spielte für Humboldt noch keine Rolle aber seine inspirierende Wirkung auf Darwin hat mich veranlasst, seine Arbeiten als Vorarbeiten zur Entwicklung der Evolutionstheorie zu werten.

Charles Darwin (1809-1882) – der Begründer der Evolutionstheorie

Über Darwins Evolutionstheorie wird an anderen Stellen in diesem Buch eingegangen. Hier wollen wir einen kurzen Blick auf Darwins Leben werfen. Darwin wurde 1809 als das fünfte von 6 Kindern in eine durchaus wissenschaftsaffine englische Oberschichtsfamilie geboren. Darwins Vater war Arzt und sein Großvater der Mediziner und Naturforscher Erasmus Darwin, der in seinem Werk „Zoonomia, or the Laws of Organic Life“ einige von Darwins Ideen vorwegnahm, z.B. die Idee, artübergreifender Stammbäume oder die Idee sexueller Selektionsmechanismen. In der Kindheit erfuhr Charles Darwin eine gute Schulbildung, die er durch Streifzüge durch die Natur mit Vogelbeobachtungen und Artefaktsammlungen (Muscheln, Knochen, Mineralien, etc.) ergänzte. 1825 begann Darwin sein Medizinstudium, dass ihm, obgleich er es nie zum Abschluss brachte, sicherlich fruchtbare Anregungen für sein späteres Denken lieferte, insbesondere lernte er durch Robert Edmond Grant die Lamarck’schen Evolutionstheorien (Evolution von Merkmalen während des Lebens) kennen und wurde von ihm im Anfertigen genauer wissenschaftlicher Zeichnungen und Aufzeichnungen instruiert. Von John Edmonstone, einem ehemaligen Sklaven aus Britisch Guyana lernte Darwin das Präparieren von Tieren und schulte damit sicherlich auch seine für die Entwicklung der Evolutionstheorie so wichtigen taxonomischen Denkweisen. 1828 brach Darwin das Medizinstudium in Edinburgh ab, um ein Theologiestudium in Cambridge aufzunehmen. Das eigentliche Studium verfolgte er mit wenig Begeisterung aber immerhin erfolgreich. Wichtiger war wohl die mit dem Studium einhergehende Beschäftigung mit philosophischen und naturphilosophischen Denkern und Werken, darunter die Werke des Naturtheologen William Paley. Paley prägte in seinem Buch „Natural Theology – Naturtheologie“ die im Spannungsfeld zwischen Schöpfungs-und Evolutionslehre immer wieder aufs neue bemühte Uhrmacheranalogie, wonach die Komplexität einer Uhr nur durch das Wirken eines intelligenten Schöpfers (Designers) möglich ist. Ebenso sah Paley in der perfekten Adaptation der Lebewesen einen Beweis für einen intelligenten Schöpfer und dessen unveränderliche (weil bereits perfekt adaptierte) Schöpfung.

 

Auch wenn Paleys Schlussfolgerungen im Licht heutiger Erkenntnisse als nichtzutreffend eingeschätzt werden müssen, waren sie für die Entstehung der Evolutionstheorie insofern von Bedeutung, dass sie Darwin Stoff gaben, an dem er sich abarbeiten und seine eigenen Ideen entwickeln konnte. Erst durch gegensätzliche Ideen können sich Theoriegebäude im verbalen und gedanklichen Diskurs entwickeln.

 

Im Dezember 1831, im Alter von 22 Jahren, stach Darwin an Bord der HMS Beagle für eine Weltumsegelung in See, die 5 Jahre dauern sollte und ihn über den Atlantik, die Kanaren und die Kapverdischen Inseln nach Südamerika führen sollte, um Kap Horn herum in den Pazifik, auf die Galapagosinseln, nach Neuseeland und Australien. Über die Kokosinseln im Indischen Ozean und um das Kap der Guten Hoffnung, über die Kapverdischen Inseln und die Azoren führte die Reise zurück nach England. Möglicherweise profitierte Darwin auch von der Langsamkeit der Reise. Denn wenn die Entwicklung der Arten hauptsächlich durch natürliche Selektion über die Generationen erfolgt, benötigt dieser Prozess sehr viel Zeit. Auch die Tatsache, dass er sich ausgiebig mit geologischen Konzepten, also eher der unbelebten Umwelt, beschäftigte, mag Darwins Zeithorizont so weit erweitert haben, dass seine Evolutionstheorie für ihn (aus)denkbar wurde. Auf der Reise fand Darwin auch viele Fossilien, also versteinerte Überreste ehmals lebender Tiere, und somit Berührungszonen zwischen (einst) belebter Natur, also Biologie und der unbelebten Geologie. Auf den Galapagosinseln lebte Darwin sein schon in der Jugend entwickeltes Interesse am Vogelbeobachten aus. Schon die Einheimischen wussten zu berichten, dass die Galapagosfinken von Insel zu Insel varriierten.

 

Nach seiner Rückkehr publizierte Darwin erst einmal nicht die Evolutionstheorie, die ihn später berühmt für die Ewigkeit machen sollte. Vielmehr erwarb er sich eine respektable Repuation für die Veröffentlichung zoologischer Kompendien und wurde auch schon aufgrund seiner beeindruckenden Artefarkte, die er auf der 5-jährigen Reise gesammelt hatte, zu einem führenden Naturalisten seiner Zeit.

 

In „An Essay on the Principles of Population“ hatte Thomas Robert Malthus Basisprinzipien der Populationsdemographie entwickelt und dargelegt, wie ein Missverhältnis zwischen linear wachsenden Nahrungsmittelressourcen und exponentiell wachsenden Populationen zu Hungersnöten und Massensterben führe.  Darwin schloss hieraus, dass Lebewesen um Ressourcen konkurrieren und nur die Lebewesen überleben, die besonders „fit“ für ihre Umwelt sind. Die Natur wählt (selektiert) sie. (Ob fit mit „stark“ oder mit „angepasst“ übersetzt werden sollte, möge der Leser selbst entscheiden).

 

Kein Schöpfer wird mehr gebraucht, die Arten sind nicht fixiert und einen Designer gibt es nicht. Alles Leben geht durch Fortpflanzung aus älterem Leben hervor und es setzen sich die Eigenschaften der Individuen durch, denen es gelingt, sich vor dem eigenen Ableben fortzupflanzen. Diese Erkenntnis, so bannbrechend sie war, versauerte noch Jahrzehnte in Darwins Schublade, bzw. Vorstellung. Statt die Evolutionstheorie zu publizieren, heiratete er s eine Cousine, der er das schon weit gereifte Manuskript zur Evolutionstheorie vorlas, mit der Bitte, es im Falle seines Ablebens zu publizieren. Das Paar hatte sechs Kinder und Darwin beschäftigte sich mit allem Möglichen (Taubenzucht, Studium von Rankenfußkrebsen). Die Evolutionstheorie legte er zwar regelmäßig befreundeten Wissenschaftlern dar, publizieren wollte er sie wohl immer noch nicht. Erst ein Brief von Alfred Russel Wallace, aus dem Darwin schließen musste, dass dieser ebenfalls das Prinzip der natürlichen Selektion verstanden hatte, veranlasste ihn, sich auf die Evolutionstheorie zurückzubesinnen. Zunächst publizierten Darwin und Wallace einen gemeinsamen Wissenschaftsbrief in einer Londoner Fachzeitschrift. Ein Jahr später folgte dann „On the Origin of Species“.

Alfred Russel Wallace (1823-1913) – Darwins Ideenverwandter

Im Februar 1858 verfasste der das Malaiische Archipel bereisende Wallace im Intervall zwischen zwei Malariaanfällen einen Brief an Darwin, in dem er gut verständlich und kompakt die Idee der natürlichen Selektion darlegte. Wie oben dargelegt veranlasste dieser Brief Darwin dazu, sein Werk „Origin of Species“ zur Publikation zu bringen. Bis heute wird immer wieder diskutiert, ob Darwin Ideen von Wallace gestohlen hat. Nüchtern betrachtet ist diese Diskussion nicht sonderlich relevant. Erkenntnisse, die ein Naturphänomen beschreiben und von mehreren Personen gemacht werden, dürften in diesen Personen zu ähnlichen Phänomenbeschreibungen und Ideen führen. Oder anders gesagt: Für Naturforscher des 19. Jahrhunderts lag die Erkenntnis der natürlichen Selektion in der Luft. 

Herbert Spencer (1820-1903) – Der liberale Sozialdarwinist

Herbert Spencer stand für eine konsequente Gültigkeit der Prinzipien der natürlichen Selektion und sah für den Menschen keinerlei Ausnahmen. Das „Survival of the Fittest“ im Sinne des „Überleben des Stärkeren“ in einem ständigen Überlebenskampf zu interpretieren, galt nach Spencer auch für den Menschen. Er postulierte ein „Law of equal freedom“ (Gesetz der gleichen Freiheit), wonach jeder Mensch die gleiche Freiheit habe, solange die Freiheit eines anderen dadurch nicht angegriffen werde. Demnach war er strikt gegen jeden Eingriff des Staates in die Gesellschaft. Somit war Spencer auch ein strikter Gegner jeglichen sozialen Ausgleichs und bekämpfte Gesetze, die Klassenunterschiede abfedern könnten, darunter Gesetze zum Schutz von Kindern vor Kinderarbeit. Dem Individuum sei also die maximale Freiheit zu gewähren, wobei die Belange des Individuums aber unbedeutend sind, da das Individdum eigentlich nur eine Selektionseinheit für die Höherentwicklung der Gesellschaft und der Art sei. Im Klassenkampf sah er eine normale Manifestationsform der natürlichen Selektion, die für eine Höherentwicklung menschlicher Gesellschaften nützlich sei. Er gilt als Vordenker des Sozialdarwinismus mit klaren Bezügen zum konkurrenzgetriebenen Liberalismus. Die Ideen Spencers dürften durch meritokratische Ideologien präsenter sein, als uns bewußt ist. Der Ausspruch des französischen Präsidenten Macron „Es gibt Leute, die Erfolg haben und jene, die nichts sind“ („gens qui réussissent et d’autres qui ne sont rien“) ist der meritokratischen Denkschule mit sozialdarwinistischen Elementen zuzuordnen (56).

Francis Galton (1822-1911) – der Universalgelehrte

Francis Galton, eine Halbvetter Darwins, war ein sehr vielseitiger Wissenschaftler und an der Erarbeitung von Grundlagen mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen, darunter Meteorologie (er erstellte eine der ersten Wetterkarten), Geographie, Psychologie und besonders Statistik (die ja auch in vielen anderen Wissenschaftsdisziplinen gebraucht wird). Zudem war er ein aktives Mitglied mehrerer Wissenschaftsgesellschaften, darunter die „British Association for the Advancement of Science“. Heute wird Galton aber insbesondere als Begründer der Eugenik aufgefasst, mit der Ansicht, dass der menschliche Genpool durch gezielte Fortpflanzungssteuerung über die Generationen verbessert werden kann und soll (wer sollte mit wem Kinder haben und wer nicht).

 

Galton postulierte, dass die Unterschiede zwischen Lebewesen primär biologisch bedingt seien und nicht durch die Umwelt und die Erfahrungen im Leben geprägt würden. Für seine sozialdarwinistischen Beobachtungen wählte Galton in „Hereditary Genius (Genie und Vererbung)“ ein mit nüchternem Blick eher seltsam anmutendes Kriterium: Eminenz. Demnach müssten auf die Nachfahren der meisten herausragenden Männer eher „weniger eminente“ Nachfahren folgen, da diese mit einer weniger herausragenden Frau gezeugt worden seien. Entsprechend sammelte er Information über eminente britische Persönlichkeiten und deren Nachfahren um festzustellen, dass die Eminenz der Nachfahren abnahm.

 

Wissentlich, dass Francis Galton in seinem Leben viele herausragende wissenschaftliche Leistungen erbracht hat, erlaube ich mir anzumerken, dass diese Ausführungen nicht dazugehören. Möglicherweise haben diese in dem Buch „Hereditary Genius (Genie und Vererbung)“ geäußerten Überlegungen und (Fehl-)Schlüsse aufgrund der anderen herausragenden wissenschaftlichen Leistungen Galtons und seiner entsprechenden Reputation viele Fürsprecher gefunden. Vielleicht waren sie aber einfach nur griffig, denn natürlich ist bei intelligenten Eltern tatsächlich eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass auch die Kinder „ordentlich was zwischen den Ohren haben“, zu erwarten. Was mir aufstößt, ist der geradezu dilettantische Ansatz, zunächst eine Fallgruppe „eminenter Personen“ der britischen Geschichte gezielt zu suchen und dann festzustellen, dass eminente Personen der britischen Geschichte tatsächlich eminenter sind als ihre Nachfahren (nach denen nicht anhand des Kriteriums „Eminenz“ gesucht wurde). Wenn ich Objekte und Individuen aufgrund ihres herausragenden Merkmals (z.B. Größe) auswähle und deren Durschnittswert mit dem Durchschnitt der Grundgesamtheit oder jeweils danebenstehender Individuen vergleiche, sollte ich eigentlich nicht überrascht sein, dass die Durschnittsgröße meiner Auserwählten über der Durchschnittsgrösse der Grundgesamtheit liegt.

 

Galton elaborierte in seinem Buch also weitgehend auf einem solchen Detektionsselektionsbias, (ein Phänomen, dass man übrigens immer wieder bei „Lebensratgebern“ findet, die z.B. einem anhand von Verhaltensweisen Superreicher erklären wollen, wie man sich verhalten müsse, um reich zu werden). Trotz dieser methodischen Schwächen wurde das Buch „Hereditary Genius (Genie und Vererbung)“ zu einem sehr einflussreichen Werk, dass bis in unsere Zeit wirkt. So prägte Galton hier erstmals den Satz „Nature vs. Nurture“, hinter dem sich die Debatte verbirgt, ob die Entwicklung eines Menschen stärker von genetischen Vorraussetzungen („Nature“) oder von Umwelteinflüssen und Erziehung („Nurture“) bestimmt wird. Eineige Zwillinge waren für Galton willkommene Studienobjekte, da deren genetische Vorraussetzung gleich waren, so dass sämtliche Unterschiede auf Umwelteinflüsse und Erziehung zurückzuführen sein müssten. Für Galton waren deshalb insbesondere Zwillinge interessant, die getrennt voneinander aufwuchsen.

 

Wie oben erwähnt war Galton auch Statistiker und erfasste die Größenverteilung von Erbsen, die er als wissenschaftliche Versuchsobjekte züchtete. Diese Erbsengrößen ergaben eine Normalverteilung, woraus Galton schloss, dass auch menschliche Eigenschaften zum faden Durchschnitt neigen und gute Eigenschaften wie Intelligenz und moralische Größe auf Dauer in der Population „ausgedünnt“ würden.

 

Galton betrachtete die höhere Fertilität der Unterschicht als problematisch und wies darauf hin, dass viele viktorianische Sprößlinge aus gutem Hause spät heirateten und wesentlich weniger Kinder hatten als Menschen aus einfachen Verhältnissen. Folglich setzte er sich für eine Bevölkerungspolitik ein, die Anreize für das Wachstum leistungsstarker, „verdienter Familien“ setzte.

 

Charles Davenport (1866-1944) – Kopf der amerikanischen Eugeniker

Charles Davenport besuchte in seinen Mittdreißigern den großen Allround-Wissenschaftler und Quantifizierer Francis Galton, einen Vetter Darwins, von dem sich Davenport insbesondere zur Verfolgung eugenischer Ziele in Amerika inspierieren ließ. Galton hatte den Begriff Eugenik geprägt und Davenport nahm von diesem Besuch aus London die Ansicht mit nach Amerika, dass die natürliche Selektion in modernen Gesellschaften nicht mehr gut funktioniere: Zur Verbesserung der Gesellschaft und der darin lebenden Menschen sollten Wissenschaftler gezielt intervenieren und bessere Menschen züchten. Die Fortpflanzungstendenzen von Menschen mit positiven Eigenschaften (insbesondere Intelligenz und Gesundheit) seien zu fördern, während sich die kognitiv Schwachen („feeble minded“) sowie die Kranken und Gebrechlichen besser nicht fortpflanzen sollten, auch um Krankheit, Leid und Siechtum in der Welt zu veringern.  Davenport wollte eine Institution schaffen, die sich nicht nur mit der natürlichen Selektion befasste, sondern wesentlich weiter ging, nämlich experimentelle Evolution betrieb, also mit wissenschaftlichen Methoden die gezielte Höherzüchtung von Pflanzen, Tieren und Menschen erforschte und betrieb. Aus Davenports Eugenik Institut wurde eines der berühmtesten und renomiertesten biologischen Forschungszentren der Welt: Die Cold Spring Harbour Laboratories.

Margaret Sanger (1879-1966) – die Feministin

Sanger prägte den auch heute allgegenwärtigen Begriff Geburtenkontrolle. Heutzutage denken wir bei Geburtenkontrolle zuerst einmal an Instrumente zur quantitativen Geburtenkontrolle zur Reduktion des Bevölkerungswachstums, wie Familienplanungsberatungen und Kontrazeptiva. Sangers Geburtenkontroll-Absichten waren eindeutig eugenischer Natur, also darauf ausgerichtet, zu kontrollieren wer sich vermehrt.  Sie eröffnete die erste Geburtskontrollklinik im Jahr 1916 und gründete die American Birth Control League (Amerikanische Liga für Geburtenkontrolle), die über Abtreibung und Empfängnisverhütung aufklärte. Angesichts eines überbevölkerten Planeten, der zur Übernutzung natürlicher Ressourcen und potentieller Zerstörung unseres Lebensraums führen könnte, während das 6. Massenaussterben komplexer Arten aufgrund der Ausbreitung des Homo sapiens stattfindet, erscheint Geburtenkontrolle zur Eindämmung von Bevölkerungswachstum zunächts mal keine schlechte Idee zu sein.

 

Margaret Sangers war allerdings weniger ökologisch als vielmehr eugenisch motiviert. Sie hielt Vorträge bei offen rassistischen Vereinigungen wie dem KuKlux Clan und sprach sich dafür aus, der „Fortpflanzung der Untüchtigen ein Ende zu setzen“. In ihrem monatlichen „The Woman Rebel“ Rundbrief verband sie radikal-feministische mit eugenischen Inhalten.  Allerdings muss man eingestehen, dass einige der von uns heute als rassistisch bewerteten Aktivitäten Sangers, aber auch anderer Eugeniker, durchaus dem Zeitgeist und auch dem wissenschaftlichen Hauptstrom entsprachen, wonach die weiße-kaukasische Rasse anderen Rassen als überlegen galt. Um Missverständnisse auszuschließen: Das britische „Sanger Institute“ für Genomforschung wurde nicht nach Margaret Sanger sondern nach dem zweifachen Nobelpreisträger Frederick Sanger benannt.

Thomas Henry Huxley (1825-1895) – Darwins Bulldogge

Inwiefern erst die Abschaffung Gottes die Evolutionstheorie möglich macht, soll hier jetzt nicht Gegenstand der Debatte sein. Vielleicht genügt es festzustellen, dass Gott einfach nicht mehr gebraucht wurde. Einer der stärksten Vertreter des Agnostizismus war Thomas Henry Huxley, ein Zeitgenosse Darwins (1809-1882) und Großvater der im 20. Jahrhundert berühmten Huxley Brüder Julian Huxley (UNESCO Generalsekretär), Aldous Huxley (Autor von Brave New World) und Andrew Huxley (Beschreiber der neuromuskulären Endplatte). Thomas Huxley trug maßgeblich dazu bei, die Darwin’sche Evolutionstheorie gegen Gegner zu verteidigen und die Evolutionstheorie zu verbreiten. Auch prägte er, basierend auf den Reiseberichten von Alfred Russel Wallace, den Begrif „Wallace Linie“ als Trennlinie zwischen asiatischen Tierarten, die noch auf Borneo und Java zu finden sind, und australasischen Tierarten, die sich auf Sulawesi und südostwärts von hier finden (6). Passend zu seiner Gabe, Wissen zu verbreiten und die wissenschaftliche Debatte zu animieren, gründete er die Zeitschrift „Nature“.

Julian Huxley (1887-1975) –Humanist und erster UNESCO-Generalsekretär

Der Evolutionsbiologe Julian Huxley war eine der treibenden Kräfte hinter der Gründung der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaften und Kultur (UNESCO) und wurde deren erster Generalsekretär. Er war ein führendes Mitglied der British Eugenics Society (heute Galton Institute), in deren Vorstand er in den Jahren 1937 bis 1944 und 1959 bis 1962 saß. Aufbauend auf Darwins Evolutionstheorien entwickelte er Ideen, die in ihrer Gesamtheit als evolutionärer Humanismus bezeichnet werden. In Deutschland hat sich die Giordano Bruno Stiftung dem evolutionären Humanismus verschrieben. Yuval Harari hat in seinem Buch Sapiens ein ganz anderes Verständnis des evolutionären Humanismus gegeben, als es wohl der Giordano Bruno Stiftung vorschwebt. Nach Harari sei die Ideologie der Nazis mit ihrer Anwendung evolutionärer Gedanken auf die Entwicklung der Menschheit als mutierende Art eine konsequente Verkörperung des evolutionären Humanismus. Der Mensch sei demnach denselben evolutionären Mechanismen unterworfen wie alle anderen Tiere, sei diesen jedoch als höherwertig überstellt. Der Homo sapiens kann sich genetisch entwickeln oder genetisch degenerieren, wobei die Höherentwicklung der Rasse das erklärte Ziel der Nazis war, welches sie durch mordende Selektion in die Realität umsetzen wollten.

 

Wenn man sich an der Bedeutung der Wörter „evolutionär“ und „Humanismus“ in ihrer nächsten Bedeutung orientiert muss auch Hararis Interpretation des Begriffs als valide betrachtet werden. Der entscheidende Unterschied zwischen Harari und der Giordano Bruno Stiftung liegt in der Auslegung des Humanismus-Begriffs. Harari betont die dem Humanismus innewohnende Überhöhung des Menschen in Abgrenzung zu anderen Lebewesen. Somit impliziert die Überhöhung des Menschen eine abwertende Diskriminierung anderer Lebewesen, einen Speziesmus. Die Giordano Bruno Stiftung benutzt den Humanismus-Begriff so, wie er in unserer Gesellschaft allgemein aufgeladen ist: Gutes und rücksichtsvolles („humanes“) Verhalten gegenüber Mitmenschen (und Tieren) werden gemeinhin mit Humanismus verbunden. Speziesmus wird ausdrücklich abgelehnt. Natürlich ist die wörtliche (spezistische) Deutung des Begriffs „Humanismus“ nicht im Sinne der Giordano Bruno Stiftung, die das Wort eher in der positiven Aufladung, die wir in unserer Gesellschaft mit dem Wort in Verbindung bringen aufgefasst sehen will. Entsprechend hat sie Harari’s Interpretation des evolutionären Humanismus deutlich widersprochen (85).

 

Aldous Huxley (1894-1963) – der visionäre Schriftsteller (Schöne Neue Welt)

Der Bruder Julian Huxleys, Aldous Huxley, hat in seinem utopischen Roman „Brave New World“ eine fiktive Gesellschaft, die durch genetische Klassen strukturiert ist, beschrieben, wobei die Zufriedentheit mit der eigenen Klassenzugehörigkeit genetisch mitverankert ist und durch frühkindliche Indoktrinierung in „Schlafschulen“ gefestigt wird.  Dadurch sind die Menschen zwar unfrei, aber zufrieden. In Huxleys Roman werden die angeborenen Klassenmerkmale durch chemische Steuerung der Embyronalentwicklung erreicht. Einer der Hauptcharaktere ist Bernard Marx, ein Alpha, also ein Angehöriger der genetisch privilegierten Schicht. Innerhalb dieser Schicht ist er jedoch ein Außenseiter, da er für einen Alpha-Mann zu klein ist und des Weiteren (oder deswegen) ein als nicht konform geltendes Sozialverhalten an den Tag legt. Dem Leser wird er zu Anfang des Buches als systemkritischer Geist präsentiert, der sich eben durch nicht­konfor­mistische Gedanken hervorhebt. Wäre Bernard Marx ein gut gebauter, sozial voll integrierter Alpha, hätte er vielleicht eine we­niger systemkritische Haltung. Mit Hilfe des „Wilden“ aus dem Reservat für indigene Völker, deren Kinder obszönerweise leibliche Väter und Mütter haben wird er für eine Zeit lang zum gesell­schaf­tlichen Mittelpunkt Londons. Diese unge­wohnte Popu­larität beschert ihm sogar Verab­redungen mit schönen Frauen, läßt aber auch sein kritischer Geist verflachen.

 

Oft wird mit Huxleys Schöne Neue Welt auch Orwells dystopischer Roman 1984, der einen totalen Überwachungsstaat beschreibt erwähnt. Und natürlich fragt man sich, wenn man beide Romane kennt, welches Szenario den Verhältnissen in heutigen konsumkapitalistisch geprägten Fassadendemokratien (86)näher kommt. Neil Postman hat sich hierbei für Huxleys „Brave New World“ entschieden:

 

„Orwell fürchtete, dass die Wahrheit von uns verborgen werden würde. Huxley fürchtete, dass die Wahrheit in einem Ozean irrelevanter Informationen ertränkt werden würde. Orwell fürchtete, dass wir eine Gefangenenkultur werden würden. Huxley fürchtete, dass wir eine Trivialkultur werden würden. In 1984 werden die Menschen durch das Zufügen von Schmerz kontrolliert. In Schöne Neue Welt werden die Menschen durch das Zufügen von Vergnügen kontrolliert. Kurz gesagt, Orwell fürchtete, dass, was wir fürchten uns ruinieren würde. Huxley fürchtete, dass, was wir begehren, uns ruinieren würde.“ (Neil Postman, Amusing Ourselves to Death: Public Discourse in the Age of Show Business)

 

Was Orwell fürchtete, waren die, die Bücher verbieten würden. Was Huxley fürchtete war, dass es gar keinen Grund mehr geben würde ein Buch zu verbieten, da es einfach niemanden mehr gäbe, der Interesse hätte eins zu lesen.

 

Ernst Haeckel (1834-1919)

Haeckel war ein starker Befürworter der Evolutionstheorie und spielte eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Darwinismus in Deutschland. Wie ähnliche Wissenschaftler in anderen Ländern (z.B. Francis Galton in England) zog auch er deutliche Schlussfolgerungen für den Menschen, wodurch er zu einem Wegbereiter der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland wurde. Die Nationalsozialisten nahmen seine Schriften als Grundlage für ihre mörderische Rassenideologie, was man allerdings fairerweise nicht Ernst Haeckel vorwerfen kann, da er 1919, also 14 Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, gestorben war. Haeckel war selbst Pazifist und Unterstützer der Friedensbewegung und hätte die Angriffskriege Hitler-Deutschlands sicherlich nicht unterstützt. Im Zusammenleben der Menschen betonte er die Wichtigkeit von Mitleid und Sympathie. Zoologische Werke Haeckels sind mit seinen wunderbaren handgezeichneten Illustrationen ausgestattet. Ohne das mörderische Werk der Nationalsozialisten, die sich auf Haeckel beriefen, wäre er vielleicht heute ähnlich ehrenvoll angesehen wie Alexander von Humboldt.